Auf ein Wort: Vom Sinn des Zweifels

„Na, da hab ich aber so meine Zweifel?“ – antwortet die Mama, als ihre Tochter beteuert, dass sie ganz bestimmt noch Englisch-Wörter lernen würde. Freilich, diese Antwort macht der Jugendlichen gewiss keinen Mut. Und wenn überhaupt, dann wird sie wohl nur missmutig die Pflicht erledigen und mit welchem Erfolg – das bleibt sehr fraglich. Jede gute Lehrerin oder Erzieherin weiß – und wenn die Mama mit etwas Abstand darüber nachdenkt, erkennt sie es sicher auch – hier hilft der Zweifel wenig.

Und auch sonst hat der Zweifel keinen guten Ruf. Wer zweifelt, wird oft als entscheidungsschwach und risikoscheu wahrgenommen, manchmal sogar  mangelnder Treue bezichtigt.

Thomas (der Zweifler), Betonrelief in der Christuskirche Reutlingen, von Ulrich Henn, 1953. (Foto: MK)

In einer der biblischen Ostergeschichten taucht geradezu ein Urbild des Zweiflers auf, der sogenannte ungläubige Thomas. Allerdings wird er im Johannesevangelium gar nicht als „ungläubig“ bezeichnet, sondern hat den Beinamen „Zwilling“. Ein Doppelgänger? Von wem? Am Ende von mir? Thomas konnte nach all dem, was er gesehen hatte, nicht einfach nur Worten glauben. Kann ich es? Wo ich doch zum Beispiel auch auf Zeitungsseiten Bilder sehe und Berichte lese, die mich am Sinn im Leben zweifeln lassen. Beinahe unablässig schlimmste Katastrophen: die einen ganz und gar unerklärlich, die anderen von Menschen gemacht. Und immer wieder wird berichtet von Terror und Schrecken auch im Namen des Glaubens. Ob es vor einhundert Jahren der Völkermord an den Armeniern war, ob es bis vor siebzig Jahren der Völkermord an den Juden war, ob es heute die schrecklichen Morde im Mittleren Osten sind, die nicht zuletzt im Namen der Religion vollzogen werden, – Grund genug, heftig am Sinn des Glaubens zu zweifeln. Doch bei dem schwäbisch-jüdischen Philosophen Max Horkheimer habe ich einen Satz gelesen, der mir den Sinn des Zweifels deutlich macht. In Bezug auf alle Glaubensfanatiker schrieb er einmal: „Bewusster Zweifel hätte sie zu Menschen machen können“. Wer zweifelt, wird nicht extremistisch. Zweifeln hilft, menschlich zu bleiben. Und nicht nur das: Zweifeln hilft mir auch zu glauben.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen