Auf ein Wort – Christsein ohne Kirche?

Auf diese Frage antworteten bei einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung im vergangenen Jahr vier von fünf Kirchenmitgliedern mit Ja. Hinter der Zahl von 84 %, die sich, wohlgemerkt als Kirchenmitglieder, auch ein christliches Leben ohne Kirche vorstellen können, verbirgt sich für die Kirchen eine riesige Herausforderung. Wie kann man verständlich machen, weshalb das Christsein nicht im Rahmen einer persönlichen Selbstverwirklichung aufgehen kann und deshalb auch nicht nur Privatsache ist?
Vor 50 Jahren schon erschien ein kleines Büchlein unter dem Titel „Jesus ja – Kirche nein?“ Darin heißt es zu Beginn, dass die Kirche „heute“ von allen Seiten kritisiert würde. „Für viele hat sich das Interesse am Christentum auf eine negative Kritik an der Kirche reduziert.“ Kaum zu glauben, dass diese Wahrnehmung nicht aus dem Jahr 2023, sondern von 1973 stammt. Der Verfasser schrieb damals doppelsinnig weiter: „Die Kirche ist in der Tat auch kritik-würdig.“ Warum? Weil sie nicht sich selbst überlassen bleiben kann und darf. Kirche gibt es nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Leidenschaft für Jesus Christus und seiner Botschaft willen. Christus selbst verstand sein Leben ganz und gar im Dienst für andere und er gab damit allen Christen ein Vorbild. Nur so, als Leben füreinander und miteinander, macht das Leben in Christi Namen Sinn. Man kann also nicht nur für sich Christ sein. Christsein ist nie nur Selbstsorge, sondern immer und vor allem Fürsorge.
Daraus ergibt sich ein sehr vielseitiges Engagement von Kirche für andere, eigentlich für alle Menschen. Ob in der Diakonie und Caritas, in Bildungseinrichtungen oder bei kulturellen Angeboten, überall zeigt sich lebendiges Christsein. Dieses Engagement aus christlicher Überzeugung heraus ist kein privates, sondern immer ein gemeinschaftliches Wirken, als Dienst für die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Dafür braucht es gewisse Strukturen, die Kirche organisiert und gestaltet. Und ja, dafür braucht es gewiss auch Kritik, damit Kirche ausgerichtet bleibt an dem, was Menschen brauchen und was dem Evangelium entspricht. So gesehen ist es Kirche allemal wert, kritisiert zu werden.
Ein Austritt kann allenfalls indirekt als Kritik verstanden werden. Besser ist es, sich konstruktiv-kritisch einzubringen, weil Kirche nur mit der Unterstützung vieler Gutes für Viele bewirken kann. Ich bin dankbar für alle, die der Kirche treu und zugleich kritisch verbunden bleiben. Ich bin froh, dass nach wie vor so viele die Frage „Christsein ohne Kirche?“ mit Nein beantworten. Umgekehrt sagen sie damit auch Ja zu kirchlichem Engagement in und für unsere Gesellschaft. Danke!

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen

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