Auf ein Wort – Finden wir zusammen?

Ob nach den jüngsten Wahlen, ob bei internationalen Konferenzen oder auch jetzt bei der Fußball-Europameisterschaft, immer wieder stellt sich die Frage ob und wie wir zusammenfinden. Denn nur dann, wenn uns das gelingt, kommen wir weiter.
Vor 500 Jahren kamen Reutlinger Bürger an einem Abend Mitte Mai auf dem Marktplatz zusammen. Sie hatten Anlass, miteinander zu reden. So verschieden sie auch waren, sie verband ein gemeinsamer und dringender Wunsch: Der Rat der Stadt solle „beim Gotteswort bleiben“. Mit diesem sogenannten „Reutlinger Markteid“ war ganz konkret auch der Einsatz für den Prediger Matthäus Alber verbunden. Denn dieser Sohn der Stadt, 1495 geboren, war nach seinem Theologiestudium in Tübingen und Freiburg 1521 auf eine Predigtstelle in seiner Heimatstadt berufen worden. Er predigte in der Marienkirche auf Deutsch und wohl so, dass sich die Menschen davon angesprochen fühlten. Vor allem aber fühlte er sich dem Evangelium verpflichtet und nicht irgendwelchen kirchenamtlichen Vorgaben. Wie frei er sich dabei fühlte, wird beispielsweise daran deutlich, dass er im selben Jahr 1524 die Reutlingerin Klara Bauer heiratete, wohlgemerkt als geweihter Priester und ein Jahr, bevor Luther heiratete. Und im Sommer dieses für die Reutlinger Stadt- und Kirchengeschichte so bedeutsamen Jahres wagte Alber es auch, öffentlich zu einem Abendmahlsgottesdienst einzuladen, bei dem alle Brot und Wein bekommen sollten. Über viele Jahrhunderte zuvor durften nur Priester aus dem Kelch trinken, für die Gemeinde gab es „nur“ das Brot. Jetzt aber sollten alle aus dem Kelch trinken dürfen. Jetzt sollten alle bei Brot und Wein zusammenfinden.
Am morgigen Sonntag erinnert die Neue Marienkirchengemeinde an diese Mahlfeier, zusammen mit dem evangelischen Landesbischof und dem Reutlinger Prälaten. Dabei werden Kelche zum Einsatz kommen, die schon vor 500 Jahren in Gebrauch waren. Und wie damals sind alle eingeladen, so verschieden wir sind. Dass Verschiedene zusammenfinden, das ist auch der Leitgedanke eines neuen Abendmahlsliedes, das der evangelische Pfarrer Frieder Dehlinger dichtete und über das Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl von der Kanzel der Marienkirche morgen predigen wird: „Finden wir Verschiedenen zusammen“.
Die Frage, ob und wie wir heutzutage zusammenfinden, führt jedoch weit über eine gemeinsame Mahlfeier in der Marienkirche hinaus. An dieser Frage entscheidet sich letztlich das Wohl unserer Stadt, unserer Gesellschaft, ja unserer Welt. Nur wenn all die Verschiedenen immer wieder zusammenfinden wollen, kommen wir zum Wohl aller voran.
Beim Markteid vor 500 Jahren haben die Reutlinger zusammengefunden, allen äußeren Umständen und Widrigkeiten zum Trotz. Diese Haltung kann uns noch heute beeindrucken und ermutigen. Das Motto „Finden wir Verschiedenen zusammen“ ist aktueller denn je.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen

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