Mit der Denkschrift „Räume der Begegnung – Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ legte die Evangelische Kirche in Deutschland zu Beginn dieses Jahrhunderts (2002) grundlegende und leitende Positionen zu Kulturverständnis und kultureller Verantwortung in kirchlicher Rezeption und Produktion vor.[1] „Kultur“ – so heißt es darin eingangs – „ist ein Schlüsselbegriff, wie Menschen sich in ihrer Welt orientieren … [wie sie] sich selbst und ihre Welt mit Hilfe von Worten, Zeichen und Bildern gestalten und sich über ihre Deutungen verständigen.“[2] Jede kulturelle Praxis kann somit als Hervorbringung und Darstellung von Sinnhorizonten verstanden werden. Deshalb wird noch im ersten Abschnitt grundsätzlich angemerkt: „Kultur gestaltet sich stets in einer Pluralität solcher Sinnhorizonte.“[3] Damit ist die Basis gelegt, auf der die weitere Diskussion um das Verhältnis von Religion und Kultur im Allgemeinen geführt werden soll, auf der aber auch die spezifisch kirchlichen Diskurse um kulturelles Engagement und die Begegnung mit anderen Kulturschaffenden und Kulturträgern sich entfalten sollen.
Die gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit sind geprägt von pluralen Sinnhorizonten, deren jeweilige Geltungsdauer und Geltungsbereiche tendenziell immer kleiner werden. Die Logik des Allgemeinen und Selbstverständlichen ist in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ im Schwinden.[4] Umgekehrt nimmt jedoch die Pluralitätsfähigkeit bzw. Ambiguitätstoleranz nur bedingt zu, so dass Sinnhorizonte immer kontroverser diskutiert werden und mithin auch kulturelle Diskurse ein großes Maß an gesellschaftlichem Konfliktpotential in sich tragen (Ehe für alle, Umgang mit Geflüchteten, Umgang mit Kreuzzeichen in öffentlichen Räumen usw.)[5]. Authentizitäts- und Identitätsansprüche sowohl Einzelner wie auch von Institutionen und Organisationen werden immer differenzierter.
Die Frage, wie Menschen sich all diesen Diskursen und Entwicklungen orientieren, wie sie „sich selbst und ihre Welt mit Hilfe von Worten, Zeichen und Bildern gestalten“ kann in evangelischer Perspektive nicht ohne den Sinnhorizont des Evangeliums beantwortet werden. Dieser evangeliumsorientierte Sinnzusammenhang wiederum vollzieht sich in kulturellen Kategorien (symbolisch, praktisch, kognitiv, narrativ und ästhetisch). Voraussetzung für einen sinnvermittelnden Vollzug ist deshalb auch eine ästhetisch kompetente und kulturbewusste Kirche.[6] Zum grundlegenden Selbstverständnis ihres Handelns gehört, dass sie sich als Teil jener Kulturen begreift, die sie umgeben. Kirche bedarf deshalb einer sensiblen Wahrnehmung ihrer kulturellen Umwelt und sollte sich ihr gegenüber aufgeschlossen zeigen. „Die Kirche kann nur bei den Menschen sein, wenn sie sich auf ihre Kultur einlässt; umgekehrt begegnen Menschen dem christlichen Glauben in der Kirche immer in einer bestimmten kulturellen Gestalt. … Wenn Kirche ihrem Auftrag treu bleiben will, hat sie dafür keinen anderen Weg als diese doppelte Inkulturation: Menschen in der Kirche Heimstatt zu bieten, indem sie selbst den Menschen nahe ist.“[7]
Den bis hierher angeführten Überlegungen liegt im Wesentlichen ein sehr offener und eher allgemeiner Kulturbegriff zu Grunde. Die Diskussion um den Kulturbegriff selber ist so alt wie die Rede von der cultura in der Antike.[8] Für den hier vorzulegenden Kulturbericht jedoch empfiehlt sich ein spezifischer und damit konkreter Kulturbegriff, bezogen auf die „Künste“ (Bildende Kunst, Musik, Literatur, Film, Theater, Tanz etc.). In diesem Sinn ist die Rede von einer kulturbewussten Kirche ein Signal an Kulturschaffende ebenso wie an die Kirche, ihre Mitglieder und Leitung selber. Eine kulturbewusste Kirche bietet offene Räume für den Dialog mit Kulturschaffenden und lädt zu kulturellen Aktivitäten und Angeboten ein.[9] „Sie sucht das Gespräch mit anderen Kulturträgern und die Auseinandersetzung mit ihren Selbstverständnissen.“[10] Sie versteht sich selber als partizipierender und theologisch reflektierender Akteur von Kultur. Sie nimmt ihre Verantwortung hinsichtlich der kulturellen Bildung und Förderung ästhetischer Kompetenzen ernst. Sie ist sich der Vielfalt ihrer eigenen kulturellen Prägungen bewusst. „Sie begreift sich selbst als in sich vielfältig. Eine kulturbewusste Kirche entwickelt Instrumente und Formate, um die eigene Vielfalt künstlerischen und kulturellen Ausdrucks als Stärke präsent werden zu lassen.“[11] Nicht versäumt werden soll schließlich ein Hinweis auf eine spezifisch evangelische Hermeneutik des Kulturbegriffs, gleich wie weit oder eng dieser auch im Blick sein sollte. Der Mensch als Individuum ist Ebenbild Gottes, kein Kollektiv. Individuen sind jedoch aneinander gewiesen und leben in sozialen Bezügen. Sinnhorizonte, mithin konkrete kulturelle Lebensäußerungen, sind sowohl auf Sozialität als auch auf Individualität orientiert. Die EKD-Denkschrift „Räume der Begegnung“ folgert daraus: „Wenn jede Kultur unabdingbar eine individuelle und eine soziale Dimension hat, ist es falsch, einem Kollektiv, zum Beispiel einem Volk oder einer Religionsgemeinschaft, eine uniforme Kultur zuzuschreiben. … Das spezifisch Protestantische … ist, die Individualität eines Menschen nicht seiner Sozialität, zum Beispiel seinem Volk oder seiner Kirche, nachzuordnen.“[12] Die Vielfalt der Individuen ist einzig eine Vielfalt an Kulturen gemäß. Das Maß an Kulturbewusstsein einer Kirche wird demnach gerade an ihrer Pluralitätsfähigkeit deutlich.
[1] Räume der Begegnung: Religion und Kultur in evangelischer Perspektive; eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland / [im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hrsg. vom Kirchenamt der EKD], Gütersloh 2002.
[2] Ebd., S. 11.
[3] Ebd., S. 11.
[4] Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 52018. (Reckwitz: „In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was nicht austauschbar und nichtvergleichbar erscheint, will ich mit dem Begriff der Singularität beschreiben.“ S. 11). Isolde Charim folgt in dieser Reckwitz’schen Grundthese in ihrem Essay „Ich und die Anderen“ und weist darüber hinaus auf den Verlust von Selbstverständlichkeit hin: „Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung. Denn eine wesentliche Funktion von Kultur ist es, Evidenz zu erzeugen – also einen unmittelbar einleuchtenden Zugang zur Welt. Einen unhinterfragten, eben einen selbstverständlichen Zugang. Heute aber gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss.“)
[5] Vgl. zum Thema der Ambiguitätstoleranz insbesondere: Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018. Was letztlich auf dem Spiel steht, wenn es tatsächlich „so etwas wie eine moderne Disposition zur vernichtung von Vielfalt geben“ (S. 12) sollte, bringt Bauer so auf den Punkt: „Ambiguitätstoleranz mag in größerem oder kleinerem Maße vorhanden sein, ganz ohne sie lässt sich jedoch nicht leben. Wenn sie aber zur conditio humana gehört, kann sie nur dann vollständig entbehrlich werden, wenn die humanitas selbst verschwindet.“ (S. 91)
[6] Vgl. Martin Bregenzer, Kirche braucht und prägt Kultur. Überlegungen zur ästhetischen Kompetenz, in AuB 7/2006.
[7] Räume der Begegnung, S. 77.
[8] Bereits Cicero vergleicht in seinen tusculanischen Schriften die cultura animi mit der cultura agri (tusculanae disputationes II/13). Wie der Acker, so ist auch der Geist zu hegen und zu pflegen. Insbesondere in der deutschsprachig neuzeitlichen Debatte wurde der Kulturbegriff wieder aufgenommen, normativ aufgeladen (Herder, Kant, Schiller u.a.) und zunehmend kontroverser diskutiert.
Terry Eagleton beginnt seine Kulturtheorie „The Idea of Culture“ (Oxford 2001) mit dem Hinweis „‘Culture‘ is said to be one of the two or three most complex words in the English language“ und diese Einschätzung scheint angesichts der bis in unsere aktuelle deutsche Gegenwart reichenden kulturtheoretischen Diskurse keineswegs nur eine angelsächsische Problematik zu sein. Siehe beispielswiese: Thea Dorn, deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten, München 2018, S. 11-62.
[9] Die EKD-Denkschrift hebt in dieser Hinsicht noch einmal eigens hervor: „Von einem Dialog aber kann ernstlich nur dann die Rede sein, wenn die Gesprächspartner in ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden. Kunst muss nach ästhetischen Maßstäben beurteilt werden, auch dann, wenn sie Glaubensinhalte zum Gegenstand hat.“ (S. 35).
[10] Zu diesen Formulierungen kommt der Visitationsbericht „Kunstvoll Kirche sein“ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Berlin 2015, S. 10f.
[11] Ebd., S. 10.
[12] Räume der Begegnung, S. 31.