Auf ein Wort: Können wir Verzeihung?

„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ So hat es in weiser Voraussicht Gesundheitsminister Jens Spahn Ende April im Bundestag formuliert. Schon damals war erkennbar, dass im Umgang mit dieser Pandemie viel entschieden werden muss, ohne dass es für die Entscheidungsträger eine wirklich gesicherte Entscheidungsgrundlage gibt. Inzwischen zeigte es sich: Wir alle haben viel zu lernen gehabt, vor allem natürlich die Wissenschaft und die Politik, aber eben auch wir als Privatmenschen. Und bis heute begleitet uns große Ungewissheit. Viele Fragen, wie es denn in der nächsten Zukunft im Blick auf den Herbst und Winter weitergehen wird, sind offen. Manche unter uns sind sehr zuversichtlich, anderen ist durchaus bange. Seit der Satz vom wahrscheinlichen Verzeihen-müssen zum ersten Mal gefallen ist, sind nun rund drei Monate vergangen und wir haben längst gemerkt, dass an diesem Satz wirklich etwas dran ist. Mit Rechthaberei und Besserwisserei ist niemand geholfen, anders schon, wenn wir einander so begegnen, dass wir bereit sind zur Verzeihung.

 „Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und entdeckt“, schrieb die jüdische Gelehrte Hannah Arendt vor 60 Jahren unter der Überschrift „die Macht zu verzeihen“ in ihrem Hauptwerk „Vita activa“. Jesus habe besonders darauf hingewiesen, dass es nicht allein Gott sei, der verzeihen kann, sondern dass auch Menschen untereinander dazu befähigt und aufgefordert sind. Nur durch dieses „dauernde gegenseitige Sich-Entlasten“ seien wir in der Lage, uns frei zu fühlen.

Und um dieses Gefühl der Freiheit wurde ja in der letzten Zeit viel diskutiert. Die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz standen manches Mal im Konflikt mit Freiheitsrechten. Umso nötiger scheint es mir zu sein, dass wir den Zusammenhang von Freiheit und Verzeihung verstehen und beherzigen. Heißt also, dass wir mit Verstand und Herz uns aufmachen, einander zu verzeihen, wo immer wir dazu Grund haben, um unbelastet und frei in die Zukunft blicken zu können. Darauf liegt ein Segen, so wie Jesus es uns gepredigt hat: Selig sind die Barmherzigen. Er hätte wohl auch sagen können: Selig sind die, die verzeihen können, denn sie werden frei sein.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen