Liebe Synodale,
als ich diesen Bericht im Wesentlichen vorbereitete (in den Tagen nach Weihnachten), da sprach noch niemand von einer „Zeitenwende“, die sich bald ereignen würde. Doch was dann am 24. Februar 2022 jäh endete, war eine Weltordnung, die als einigermaßen stabil und regelbasiert bezeichnet werden konnte. An diesem Tag jedoch geschah etwas, was zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte und was die angesprochene Zeitenwende markiert: Der von einem Gewaltherrscher, einem lupenreinen Diktator befehligte und zu verantwortende Angriffskrieg auf die Ukraine, der seitdem zu millionenfachem Schrecken und Leid, zu Flucht und Vertreibung, zu Qualen und Folter für Seele und Leib, zu Hunger und Kälte, zu Tod und Trauer führt. Die Lebensläufe und Lebenszeiten unzähliger Menschen werden durch zynische Gewalt brutal fremdbestimmt, natürlich vor allem in der Ukraine, aber auch in Russland selbst. Menschen in den Nachbarstaaten fürchten um ihre sichere Zukunft, uns alle beschäftigt die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges, vor einem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Welch ein Wahnsinn, dieser Krieg!
Wir dachten, der Kalte Krieg sei ein für allemal zu Ende, und nun kehrt der Krieg als Mittel der Durchsetzung von Interessen heißer als in unseren schlimmsten Alpträumen befürchtet wieder zurück und mit ihm diese Zeitenwende. Wie kann, wir wird es weitergehen? Welche Veränderungen zwingt dieser Krieg der ganzen Welt auf?
Es sind große Fragen, die die kleine Lebenswelt von Menschen, auch unserer persönlichen Lebenswelt genauso beschäftigen wie die große weite Welt, die politische, die wirtschaftliche und nicht zu vergessen auch die Welt der Kultur.
Und natürlich stellen sich damit auch wieder Fragen nach dem, was die Rolle der Kirchen sein kann und soll, stellen sich diakonische, seelsorgerliche, friedensethische Herausforderungen, stellen sich aber auch Fragen nach unserem je persönlichen Glauben. Was macht die Weltwirklichkeit mit unserer Glaubensgewissheit?
Fragen über Fragen, viel zu viele, ganz gewiss nicht im Rahmen eines Dekansberichtes angemessen zu erörtern. Es kommt die Zeit, ja sie ist eigentlich schon da, wo wir uns miteinander darüber austauschen, vor und nach Friedensgebeten, während wir uns für Geflüchtete ganz unmittelbar einsetzen, in Gesprächen bei Besuchen und Begegnungen, die Zeit für den Austausch und das Aushalten unserer Fragen, miteinander, sie ist nötig, um in der wechselseitigen Zuwendung einander stärken und trösten zu können.
„Fröhlich in Hoffnung“ sollte die Überschrift meines diesjährigen Dekansberichtes lauten, drei Worte, als erster von drei Teilen eines Bibelverses. Die anderen beiden Teile hatte ich auch im Blick, aber herausheben wollte ich dennoch den ersten Teil und also diese drei Worte „fröhlich in Hoffnung“. Der Anlass dafür war die Wahrnehmung, wie die Situation unserer kleiner werdenden Kirche, mit all den damit konkret verbundenen strukturellen Veränderungen, uns in unseren Gremien und Gemeinden beschäftigt, wie wir so manches Mal den Eindruck haben, wir beschäftigten uns nur mit uns selbst und mit dem Rückbau von kirchlicher Infrastruktur. Und wenn dann jeweils jährlich die Zahlen zum neuerlichen Gemeindegliederrückgang publiziert werden, dann droht wieder eine resignative Stimmung sich auszubreiten.
Die drei Worte „fröhlich in Hoffnung“ sollten der gute Grund sein, von dem aus ich meinen Bericht in zwei Teilen entwarf.
Teil 1: eine geistliche Grundlage
Teil 2: Herausforderungen in der aktuellen Legislatur
Hoffnung als Kern des Glaubens,
Kirche als Gemeinschaft von Hoffenden,
Hoffen um der Liebe willen,
das sind meines Erachtens wichtige Grundvoraussetzungen für unser Reden und Handeln gerade auch im Bezug auf die Situation einer kleiner werdenden Kirche. Hoffnung ist gleichsam das geistliche Vorzeichen für alles, was wir in unseren Gemeinden und Gremien miteinander beraten und beschließen. Hoffnung als Grundhaltung, in der wir unterwegs sind.
Ich sprach von den drei Worten im ersten Teil eines dreigliedrigen Bibelverses. Den meisten wird dieser Vers aus Röm 12, 12 bekannt sein:
Fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
beharrlich im Gebet.
Schon im Bezug auf die Situation unserer Kirche waren und sind diese Stichworte dringend, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegslage jedoch haben diese Stichworte noch einmal eine ganz andere Dimension, eine existentielle, die alle unsere Fragen nach der Zukunft unserer Kirche sehr relativiert und eigentlich weit in den Hintergrund rücken lässt.
Ob es deshalb angemessen ist, dass ich Ihnen meine Gedanken zu unseren kircheninternen, strukturellen Herausforderungen vortrage, dass ich das „Fröhlichsein in Hoffnung“ als geistliche Grundhaltung thematisiere, ob all das angemessen ist? Ich verstehe, wer daran Zweifel hegt und wage es dennoch, selbst und gerade jetzt von Hoffnung zu sprechen. Es sei „die Ungeduld der Hoffnung“, die am Ende gar zur „Anklage Gottes“ führe. Und sie habe ihren Ursprung im Schrei des Psalmisten „Bis wann, Herr?“ lese ich bei Paul Ricœur in einem Vortrag über das Böse.[1] „Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“ so der Psalmist, an den der Philosoph erinnert. Und der Psalmbeter fährt fort, ganz so als ob er das Gebet eines Ukrainers aus unseren Tagen vorformulieren würde: „Schaue doch und erhöre mich, Herr, mein Gott! … dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.“ (aus Psalm 13)
Die Klage und Anklage als Ausweis von Hoffnung? Ja, auch das. Auch das gehört zum Kern unseres Glaubens.
I.
Hoffnung als Kern des Glaubens
Und nun also wage ich es doch, den einmal entwickelten Faden wieder aufzunehmen und Ihnen das, was ich vorbereitet hatte, vorzutragen:
Liebe Synodale, in der Woche vor Weihnachten erschien in einer großen überregionalen Tageszeitung ein Artikel, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das Weihnachtsfest 2021 das letzte mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit in unserem Land sei.[2] Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der F.A.Z habe ergeben, „dass sich derzeit 28 Prozent der Bevölkerung als Mitglied der evangelischen Kirche, 25 Prozent als Katholiken bezeichnen“.[3] Ein Blick in das Statistische Jahrbuch der Stadt Reutlingen bestätigt diese Angabe für uns Evangelische im Bereich der Gesamtkirchengemeinde bereits für das Jahr 2019.[4] Demnach sind 28,72 % der Bevölkerung im Gebiet der Gesamtkirchengemeinde Reutlingen evangelisch. Das eine ist also der kontinuierliche Rückgang der Gemeindegliederzahlen, das andere aber erscheint noch bedenklicher in dieser Umfrage. So glauben inzwischen nur noch 24 % der Bevölkerung an die Auferstehung von den Toten, eine Generation früher, 1986 lag dieser Prozentsatz noch bei 38 %. Dass Jesus der Sohn Gottes sei, glauben heute noch 37 %, damals 1986 waren es 56 % der Bevölkerung. Ein zweiter Artikel zum selben Thema in derselben Zeitung kommt deshalb zu dem Schluss: „Zuerst verblassen die Inhalte des Glaubens. Dann wächst der Abstand zur Kirche. Und am Ende steht für viele der Austritt.“[5]
Wenn also dem Austritt ein schleichender Prozess des zunehmenden Abstands zur Kirche und des sukzessiven Schwindens von Glaubensinhalten vorausgeht, dann kann dies doch nur bedeuten, dass wir mehr denn je auf genau diese Glaubensinhalte achten müssen. Dann müssen wir uns wohl viel stärker, als wir es normalerweise in unseren Diskussionen um die kleiner werdende Kirche tun, um ihren Kern kümmern, wohlgemerkt nicht um die Kerngemeinde, sondern um die Kerne unseres Glaubens. Wenn nur noch knapp die Hälfte aller evangelischen und katholischen Christinnen und Christen an die Auferstehung von den Toten glaubt, dann stellt sich uns die Aufgabe der Vermittlung unseres Glaubens ganz dringlich. Dann brauchen wir die Besinnung auf die inhaltlichen Kerne von Kirche. Dann müssen wir uns bei all unserem Tun und Lassen fragen und fragen lassen, was ist denn davon nun spezifisch kirchlich. Was ist im Kern die Motivation für unser Engagement, aus welchen Glaubensquellen heraus, mit welchen Glaubensbotschaften sind wir unterwegs? Im 1. Petrusbrief heißt es an einer Stelle: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist“ (3, 15).
Kirche als Gemeinschaft von Hoffenden
Liebe Synodale, mir scheint, dass dies die eigentliche Herausforderung für uns gegenwärtig und in absehbarer Zukunft ist, dass wir als Kirche eine Hoffnungsgemeinschaft sind und bleiben, dass wir als solche, die sich in und für die Kirche engagieren, Hoffnung ausstrahlen, auch und gerade in Zeiten einer kleiner werdenden Kirche und sich immer mehr verbreitender Ungewissheiten. Die Hoffnung, die in uns ist, ist freilich keine, die wir selbstverständlich in uns tragen, sondern ist die, welche Christus in uns auslöst. Unser Hoffnungsvorrat wäre wohl recht überschaubar, wenn wir uns auf unsere je eigenen Strategien und Konzepte allein verlassen müssten. Unsere eigentliche Hoffnung gründet, um es weiter mit Petrus zu sagen, auf Gott, den Vater Jesu Christi, „der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Petr. 1, 3). Das ist der eigentliche Grund unserer Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern Christus uns den Weg der Auferstehung aufgezeigt hat, auf den uns Gott ruft, hin zu sich, in seine ewige Wirklichkeit, voll Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Frieden.
Umso bedenklicher ist es, wenn nun den Glauben daran immer weniger Menschen teilen. Woran das liegt? Das hat gewiss viele Ursachen. Vielleicht auch jene, dass wir als Kirche diesen Glauben zu selbstverständlich genommen haben und auch zu zurückhaltend von dieser Perspektive jenseits unseres gegenwärtigen Lebens gesprochen haben? Um nicht missverstanden zu werden, ich will nicht einer Jenseitsvertröstung das Wort reden, wohl aber meine ich, dass schon jenseits unseres hiesigen Lebens und Leidens der Anker christlicher Hoffnung liegt. Wenn dieser Anker jedoch dort keinen eigentlichen Halt mehr bieten kann, weil wir ihn bis dahin gar nicht auswerfen, dann besteht die Gefahr, dass wir von allen möglichen Strömungen erfasst und abgetrieben werden. Ich komme deshalb einmal mehr zu jener Einsicht, für die ich schon in meinem Dekansbericht vor drei Jahren geworben habe: Mehr Transzendenz wagen! Reden wir offen und mutig, dabei unsere Zweifel ganz gewiss nicht verschweigend, auch vom Himmel. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ sagt Jesus und verweist damit auf eine andere Wirklichkeit als die unmittelbar einsichtige und uns verfügbare. Reden wir vom Unverfügbaren, und setzen darauf unsere Hoffnung! Reden wir von dem, was wir nicht mit den Augen unseres Wissens sehen, wohl aber mit jenen des Glaubens schauen können.
Hoffen um der Liebe willen
Angesichts der Zahlen, Daten und Fakten sind wir in den Gremien oft besorgt. Wohin wird das alles noch führen? Pfarrplan, Strukturen, Immobilien, Finanzen. Und in der Tat, diese Leitungsaufgaben sind nicht ohne Sorgen anzugehen, aber diese Herausforderungen und Probleme dürfen nicht dazu führen, dass wir ernüchtert den Kopf hängen lassen, dass wir kollektiv resignieren.
Liebe Synodale, manchmal erlebe ich mich auch so, dass ich nicht weiß, wie es gehen könnte, wie wir die Vorgaben auch wieder des nächsten Pfarrplans umsetzen sollen und wir etwa jede fünfte Pfarrstelle streichen sollen, wie wir mit jährlich 2,5 % weniger Gemeindegliedern, im letzten Jahr gar 3,38% weniger in der Gesamtkirchengemeinde, die vorhandene kirchliche Infrastruktur erhalten können, manchmal bin auch ich ratlos …, aber trostlos, nein, das will ich nicht sein und das bin ich auch nicht. Denn es geht eben nicht um Leitungsverantwortung für irgendeine Einrichtung, sondern es geht um die Gestaltung der Kirche Jesu Christi. Er ist das Haupt und wir die Glieder. An dieses Bild erinnert uns Paulus u.a. im Epheserbrief: „Von ihm [Christus] aus wird der ganze Leib zusammengefügt und zusammengehalten durch jede Verbindung, die den Leib nährt mit der Kraft, die einem jeden Teil zugemessen ist. So wächst der Leib und erbaut sich selbst in der Liebe.“ (Eph 4, 16)
Als einzelne Glieder können wir den Organismus Kirche nicht am Leben erhalten, wohl aber können wir ihm Gutes tun, indem wir in Liebe miteinander umgehen. Unmittelbar vor jenem Ausdruck vom Fröhlichsein in Hoffnung heißt es in Röm 12 – nach der Übersetzung der neuen Züricher Bibel von 2006: „In geschwisterlicher Liebe sind wir einander zugetan, in gegenseitiger Achtung kommen wir einander zuvor. In der Hingabe zögern wir nicht, im Geist brennen wir, dem Herrn dienen wir.“ (Röm 12, V. 10f)
Wir müssen sicherlich auch verschiedene Optionen in unseren Beratungsprozessen abwägen, wir müssen prüfen, müssen manches Mal miteinander ringen, um das hoffentlich Gute zu finden und umsetzen zu können. Auch werden wir einander nicht immer verstehen, werden manches Mal uns gar verlaufen, aber eines darf und soll uns nicht passieren, dass wir keine Liebe mehr untereinander und in der Gemeinschaft mit Christus empfinden. Auch wir sind nicht vor Lieblosigkeiten gefeit, niemand, aber wir sollten uns genau daran immer wieder selbstkritisch erinnern und uns dann wieder neu öffnen für die Liebe Gottes, die so groß ist, dass er gar um unsretwillen seinen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, eine begründete Hoffnung haben, die über das hinausführt, als was wir mit unseren eigenen Kräften und Augen für möglich halten.
Fröhlich in Hoffnung
Auf die Übersetzung der Neuen Züricher Bibel von Röm 12, 12 wurde ich aufmerksam, weil sie den für meinen Bericht titelgebenden Bibelvers nicht – wie Luther – als Imperativ wiedergibt „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“, sondern als Indikativ:
„In der Hoffnung freuen wir uns, in der Bedrängnis üben wir Geduld, am Gebet halten wir fest.“[6] Mir gefällt diese indikativische Variante. Das macht doch Mut, so ist es! Das ist etwas anderes, als „so sollt ihr sein!“
So will ich sein und so will ich uns wahrnehmen. Ich weiß, dass dies oft nicht spürbar und erkennbar ist, aber dieser Wille wird die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit doch grundlegend bestimmen. Davon bin ich fest überzeugt. Und deshalb will ich diesen Bibelvers wie ein Leitwort nehmen und ihm folgen: Weil unsere Hoffnung in Gott selbst gründet, haben wir Grund, trotz allem, uns zu freuen, können wir in schwierigen Zeiten geduldig bleiben und lassen nicht nach, immer wieder die Hände zu falten. Möge doch diese Grundhaltung unsere kirchliche Wirklichkeit gerade auch in den nächsten Jahren prägen: Fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und beharrlich im Gebet.
II.
Liebe Synodale, im zweiten Teil meines Berichtes möchte nun ausdrücklich auf einige konkrete Herausforderungen in dieser Legislatur noch eingehen, für deren Bewältigung es einen Unterschied macht, in welcher Grundhaltung wir sie angehen. Welche ich dafür empfehle, das habe ich bis hierher deutlich zu machen versucht.
Pfarrplan
In einem Jahr werden bereits die neuen Pfarrplanzahlen vorliegen und nach allem, was schon heute absehbar ist, werden diese Zahlen deutlich schmerzlicher ausfallen als womit ich und viele noch bis vor kurzem gerechnet hatten. Hatten wir bislang gedacht, dass die Kürzungsquote des Pfarrplans 2030 etwa der des Pfarrplans 2024 entsprechen würde, in unserem Kirchenbezirk sind dies -12 %, zeichnet sich nun aber aufgrund des im Vergleich zur damaligen Prognose der Gemeindegliederentwicklung deutlich höheren Mitgliederrückgangs und der starken Jahrgänge von Pfarrerinnen und Pfarrer, die Mitte der 20er Jahre in den Ruhestand gehen, eine deutlich höhere Kürzungsquote ab. Es wird deshalb für den Pfarrplan 2030 mit -20 bis -22 % zu rechnen sein. Nun hat sich zum einen die Landessynode damit noch nicht abschließend befasst und zum anderen fallen die Zahlen für die Kirchenbezirke dann auch wieder sehr verschieden aus, je nachdem, welche Berechnungsfaktoren in Anwendung gebracht werden und wie auch die Gemeindegliederentwicklung pro Kirchenbezirk aussieht – deshalb werden beispielsweise noch die Zahlen dieses Jahres mit einberechnet, um insbesondere auch eine noch bessere Einschätzung darüber gewinnen zu können, ob die überdurchschnittlichen Rückgänge in den unmittelbaren Vorjahren sich verstetigen oder eben doch eher Ausreißer waren – aber gleich wie wir es drehen und wenden und ohne dass wir uns jetzt schon auf eine konkrete Zahl fixieren: Es kommt eine große Aufgabe auf uns zu, die wir nur dann bewältigen, wenn wir bereit sind, erhebliche strukturelle Veränderungen in den nächsten Jahren anzugehen und umzusetzen, ganz sicher im Blick auf den Pfarrdienst, aber nicht nur. Die Verwaltungsstrukturreform Kirche 2024plus habe ich bereits angesprochen.
Kirche 2024plus = Verwaltungsreform 2030
Ein Zwischenbericht, der u.a. auch die Erfahrungen aus drei Pilotregionen aufgenommen und ausgewertet hat, wurde der Landessynode im vergangenen Herbst bereits vorgelegt. Wir haben uns im KBA damit auch noch einmal intensiv befasst und eine Stellungnahme verfasst. Als das Projekt 2018 Fahrt aufnahm, trugen wir erhebliche Bedenken vor und baten dringend um mehr Zeit und mehr Beteiligung. Beides wurde nun auch umgesetzt, was wir als KBA Reutlingen ausdrücklich würdigen. Grundsätzlich denke ich, sind wir in unserem Kirchenbezirk diesbezüglich schon sehr gut aufgestellt mit unserem Dienstleistungszentrum. Und dennoch wird die Verwaltungsreform – die für den Zeitraum bis 2030 sukzessive geplant werden soll – einen gravierenden Einschnitt in unser kirchliches Verwaltungshandeln mit sich bringen. Ca. 50 % der Kirchenpflegeaufgaben wird dann ein erweitertes DLZ übernehmen und die anderen 50 % werden in der Regel mit einer erweiterten Sekretariatsstelle, die voraussichtlich Gemeindeassistenz genannt werden wird, übernommen. Die Gemeindeassistenzstellen sollen höher eingruppiert werden als die bisherigen Sekretariatsstellen und sollten unseres Erachtens nicht nur Sitz sondern auch Stimme im Kirchengemeinderat haben. So jedenfalls haben wir es in unserer Stellungnahme seitens des KBA Reutlingen zum Ausdruck gebracht und nun hoffen wir, dass diese Anliegen die nötigen Mehrheiten in der Landessynode finden werden.
Einen erheblichen Verlust stellt gewiss das bisherige ehrenamtliche Engagement von Kirchenpflegerinnen und Kirchenpfleger dar, weil die allermeisten ja eben nicht nur Dienst nach Vorschrift gemacht haben, sondern ganz viel darüber hinaus. Aber es ist halt doch auch anzunehmen, dass in den kommenden Jahren die Komplexität in der kirchlichen Verwaltung so sehr zunimmt, dass mit kleineren Deputaten die Arbeit kaum mehr hinreichend kompetent bewältigt werden könnte. Stichworte wie Aktivierung der Umsatzsteuerpflicht, Einführung der doppischen Haushaltsführung, Umstellung auf weitestgehende papierlose Verwaltung, IT- und Datensicherheit, Gemeindestrukturentwicklungsprozesse mögen nur als Andeutungen dafür dienen, was alles an Herausforderungen auch und besonders auf die kirchliche Verwaltung zukommt. Mit dieser Aufzählung ist zudem klar, dass die Quantität der Verwaltungsaufgaben sicher nicht abnehmen wird, sprich: wir werden absehbar gewiss nicht weniger Personal dafür benötigen. Es wird jedoch umfangreichere Deputate mit klaren inhaltlichen Profilen geben. Viele Fragen der konkreten Umsetzung sind offen, zum Beispiel auch die, wie viele Außenstellen es geben wird, und wo? Und wie wirken sich die während der Pandemie gemachten Erfahrungen nun in Sachen Homeoffice aus?
Dass die nun unter dem Titel „Verwaltungsreform 2030“ konzipierten Verwaltungsstruktur-veränderungen kommen werden, steht meines Erachtens inzwischen fest. Ich bin dankbar, dass die zahlreichen Bedenken und kritischen Einwände von den Projektverantwortlichen in Oberkirchenrat und Landessynode angehört und abgewogen wurden. Nun hoffe ich, dass wir möglichst bald ausreichend Klarheit haben, was wann wie kommen soll. Der gegenwärtige Zustand der Unentschiedenheit ist auf die Dauer nicht hilfreich.
Gemeindestrukturentwicklungsprozesse
Die Neuorganisation der kirchlichen Verwaltung vor Ort in den Gemeinden und in den Bezirken steht auch in einem engen Zusammenhang mit Gemeindestrukturentwicklungsprozessen. Sobald es um Überlegungen zur Schaffung einer Verbundkirchengemeinde oder einer Fusion geht, spielen die Aspekte der kirchlichen Verwaltung eine erhebliche Rolle. Auch deshalb brauchen wir schnell Klarheit, denn die Beratungen für größere Einheiten durch Verbund oder Fusion sind eben auch auf Grund der Pfarrplanmaßnahmen vielerorts nötig und sehr sinnvoll. Aktuell laufen mehrere solcher Prozesse in unserem Kirchenbezirk, so wie auch schon in der letzten Legislatur. Als ich meinen Dienst als Reutlinger Dekan vor sieben Jahren antrat, da gab es noch 33 Kirchengemeinden, heute sind es 28[7]. Und ich bin mir sehr sicher, dass wir am Ende dieser Legislatur noch weitere Fusionen beschlossen oder schon umgesetzt sehen werden. Fusionen sind gewiss kein Selbstzweck, sondern sind dem Mitgliederrückgang und damit den kleiner werdenden personellen und finanziellen Ressourcen geschuldet. Und dennoch haben sie auch inhaltliche, innovative Potentiale, die es lohnt, ausfindig zu machen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Veröffentlichung einer Studie zu Wirkfaktoren gelingender Fusionen aufmerksam machen, die der Oberkirchenrat in Auftrag gegeben hatte.
Aufgrund ihres Erscheinungsdatums, genau zu Beginn der Pandemie, wurde sie wohl nicht in dem Maße wahrgenommen, wie sie es verdient hat. Neben einem ausführlichen Bericht findet sich auf der Homepage von SPI, dem komplementären Beratungsdienst der Landeskirche Struktur, Pfarrdienst und Immobilien, ein Kurzbericht, dessen Lektüre ich allen sehr empfehle, die sich mit Fusionsüberlegungen beschäftigen.[8] Generell kommt es sehr darauf an, dass die Beratungen diesbezüglich nicht als Rückzugs- oder Rückbauberatungen verstanden werden, sondern als Gestaltungsaufgabe, um sich angemessen auf Rahmenbedingungen und Entwicklungen einzustellen. Eine Aufgabe, für die auch ein gewisses Maß an fröhlicher Zuversicht hilfreich ist. In Röm 12 heißt es dazu: „Wer eine Leitungsaufgabe versieht, tue es mit Hingabe; … heiter und fröhlich.“ (V. 8). Unsere Leitungsaufgaben sind, um es noch einmal zu sagen, gewiss nicht nur technisch-operativer Art, sondern auch geistlicher Art, mithin ein Ausdruck der Hoffnung, die uns bewegt.
Fachkräftemangel und ACK-Klausel
Einen letzten inhaltlichen Punkt möchte ich noch ansprechen, weil er uns da, wo wir selbst Anstellungsträger im Bereich Kindertagesstätten oder Diakonie bzw. Pflege sind, sehr beschäftigt, der Fachkräftemangel.
Wenn ich den Kindertagesstättenbereich herausgreifen darf: Wir sind froh, dass wir in Reutlingen eine eigene Fachschule für Sozialpädagogik haben, mit der wir sehr gut zusammenarbeiten. Die Schulleiterin, Frau Beier, ist zudem über ihre ehrenamtliche Funktion als Vorsitzende unseres Diakonieverbandes auch beratendes Mitglied in unserem KBA. Die Fachschule an der Kreuzeiche und unser Sachgebiet Kindertagesstätten sind in engem Austausch. Vielen herzlichen Dank dafür allen Akteurinnen und Akteuren. Mit beindruckend viel Engagement und Phantasie versucht das ganze Team zusammen mit den Leitungsverantwortlichen vor Ort in den Einrichtungen Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Im Vergleich mit anderen Trägern sind wir hier sehr gut aufgestellt und doch können auch wir nicht alle Stellen besetzen. Eine Vielzahl von Maßnahmen setzen wir um und können uns dennoch nicht von der Gesamtlage abkoppeln. Laut einer Bertelsmann-Studie, die im August des vergangenen Jahres publiziert wurde, fehlen bis 2030 allein in Baden- Württemberg je nach Qualitätsstandards zwischen 20.000 und 41.000 Fachkräfte für die frühkindliche Bildung.[9] Wir spüren diesen Mangel an Fachkräften jetzt schon so stark, dass wir z.B. in einem neuen Kitagebäude, das wir 2020 einweihten, erst jetzt in diesem Frühjahr wirklich den Vollbetrieb aufnehmen konnten, weil wir bislang dafür schlicht nicht das Personal hatten. Und dies, obwohl in Reutlingen Hunderte von Kita-Plätzen fehlen.
Nur ein, aber zunehmend wichtiger werdender Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang insbesondere für uns als kirchlicher Dienstgeber die sogenannte ACK-Klausel, sprich die Tatsache, dass unsere Angestellten grundsätzlich Mitglied in einer der in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen vertretenden Kirchen sein müssen. Pro und Contra dieser formalen Loyalitätsanforderung werden seit vielen Jahren intensiv erörtert. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das in einem konkreten Fall die Umsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht umgesetzt sah, könnte nun der entscheidende Anlass sein, dass die Kirchen sich zu einer Abschaffung dieser ACK-Klausel veranlasst sehen. Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung legte jedoch bezugnehmend auf dieses BAG-Urteil formal Verfassungsbeschwerde ein, weil das kirchliche Selbstbestimmungsrecht diesbezüglich auf dem Spiel stehe.[10]
Aus meiner Sicht sollten wir als Landeskirche die ACK-Klausel ganz allgemein abschaffen und nur für begründete Fälle aufrechterhalten, beispielsweise für Leitungsstellen oder für Stellen, bei denen es insbesondere um kirchlich-diakonische Kommunikation geht. Liegt bislang die Loyalitätspflicht bei Anstellungsverhältnissen auf der Basis der Kirchlichen Anstellungsordnung (KAO) allein auf der Seite der Angestellten durch den formellen Nachweis einer Kirchenmitgliedschaft, so liegt m.E. die Verantwortung für die Identifikation mit den inhaltlichen Grundlagen und Zielen dafür eigentlich mindestens so sehr beim Träger. Als Träger sollten wir also dafür sorgen, dass diakonisches Selbstverständnis, christliches Menschenbild und christliche Ethik von unseren Angestellten mitgetragen werden können. Dazu braucht es von Trägerseite Angebote zu diesbezüglichen Fort- und Weiterbildungen, geistliche Angebote und eine regelmäßige Thematisierung von Fragen des diakonischen Selbstverständnisses.
Die Bedarfe in den Bereichen Elementarpädagogik und Diakonie, insbesondere der Pflege, werden nicht abnehmen. Der Pool an Fachkräften mit Kirchenmitgliedschaft jedoch wird kleiner. Wollen wir nun als kirchliche Träger im sozial-diakonisch-pädagogischen Bereich weiter tätig sein, müssen wir uns auch für kirchlich nicht gebundene Fachkräfte in unserer Kirchlichen Anstellungsordnung öffnen. Und zugleich müssen wir uns einmal mehr und vielleicht auch wieder neu darüber verständigen, was uns im Kern bewegt, diese Arbeit für die Gesellschaft zu erbringen. Wir sollten also auch hier darüber nachdenken, welche Hoffnung in uns ist.
„Freuen wollen wir uns mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden“, „in geschwisterlicher Liebe sind wir einander zugetan, in gegenseitiger Achtung kommen wir einander zuvor“- das sind keine Sätze aus einem Leitbild einer Kindestagesstätte oder eines Pflegedienstes, sondern das sind einmal mehr Auszüge aus dem Römerbrief des Paulus, aus dem jetzt von mir so viel zitierten 12. Kapitel.
Liebe Synodale,
vieles, vor allem jetzt im zweiten Teil meines Berichtes konnte ich trotz vieler Worte nur grob skizzieren, was eine viel gründlichere Darstellung verdient hätte. Und habe bei all dem mindestens ein ganz wichtiges Thema meinerseits gar nicht angesprochen. Doch dies nur deshalb, weil nachher meine Referentin Pfarrerin Reich zusammen mit Pfarrerin Braess einen eigenen Zwischenbericht aus unserer Bezirksarbeitsgruppe Sexualisierte Gewalt geben werden. Ich bin ausgesprochen dankbar für das Engagement dieser Arbeitsgruppe und sehe die inhaltliche Befassung mit diesem Thema für absolut unabdingbar an.
Bei all den nun angesprochenen Herausforderungen und den damit verbundenen Diskussionen jedoch ist und bleibt mir das wichtigste Anliegen, dass wir die Haltung, um die es mir im ersten Teil meines Berichtes ging, weiterhin einzunehmen versuchen: „Fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“. Dazu haben wir einen guten Grund: Gottes Zuwendung zu uns in Christus, unabhängig von unserer Größe, Mitgliederzahl oder Finanzkraft. Im Blick auf diesen eigentlichen Kern unseres Glaubens gewinnen wir Zuversicht, weit über unsere Zeit, über unsere Stärken und Schwächen in Kirche hier hinaus. Deshalb steckt so viel Hoffnung in uns, so viel, dass wir im Grunde unseres Herzens „heiter und fröhlich“ sein können (Röm 12, 8).
Ich freue mich über Resonanz zu meinem Bericht, ob heute oder bei anderer Gelegenheit und danke sehr für Ihr aufmerksames Zuhören!
Dekan Marcus Keinath
Reutlingen, den 25. März 2022
[1] Paul Ricœur, Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, Zürich 2006, S. 58.
[2] FAZ vom 22.12.2021: „Weniger Deutsche mit christlicher Bindung“.
[3] AaO.
[4] Reutlingen_im_Spiegel_der_Statistik.pdf (elk-wue.de) (S. 53), Aufruf: 3.1.2022.
[5] Thomas Petersen, Christliche Kultur ohne Christen, in: FAZ vom 22.12.2021.
[6] Die BasisBibel versucht gewissermaßen die Verbindung von Imperativ und Indikativ: „Freut euch, dass ihr Hoffnung habt. Bleibt standhaft, wenn ihr leiden müsst. Hört nicht auf zu beten.“ Weitere Übersetzungsvarianten:
„Freut euch in der Hoffnung, seid geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet!“ (Einheitsübersetzung, 2016); „In der Hoffnung freuet euch! In der Bedrängnis beharret! Im Gebet seid rastlos tätig!“ (Karl Barth, 1919); „Freut euch in Hoffnung, haltet stand in Bedrängnis, seid beharrlich im Gebet.“ (Ulrich Wilckens, 1982). Und im Original: „τῇ ἐλπίδι χαίροντες, τῇ θλίψει ὑπομένοντες, τῇ προσευχῇ προσκαρτεροῦντες“.
[7] Davon 15 selbstständige Kirchengemeinden, 9 Kirchengemeinden in zwei Gesamtkirchengemeinden Reutlingen (7) und Unterhausen-Honau (2), sowie die Verbundkirchengemeinde Gammertingen-Trochtelfingen mit Mägerkingen und Hausen.
[8] https://www.spi-beratung.de/fileadmin/mediapool/gemeinden/E_spiberatungneu/Kurz-Bericht_Wirkfaktoren_fuer_das_Gelingen_von_Fusionen_von_Kirchengemeinden.pdf [Aufruf: 04.01.2022]
[9] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/fachkraefte-radar-fuer-kita-und-grundschule-2021-all , S. 28. [Aufruf: 04.01.2022]
[10] https://verfassungsblog.de/kirchliche-selbstbestimmung-und-deutsche-verfassungsidentitaet-ueberlegungen-zum-fall-egenberger/ [Aufruf: 04.01.2022]
Unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens jedoch hat die neue Vorsitzende des Diakonischen Werkes Württemberg, Oberkirchenrätin Anette Noller, (einigen vielleicht noch aus ihrer unständigen Zeit in Trochtelfingen in guter Erinnerung) in den vergangenen Monaten einen breiten Konsultationsprozess zu diesen Fragen initiiert.