Liebe Synodale,
der Bericht des Dekans wird nun weniger ein zurückschauender Bericht sein als vielmehr ein Impuls, ein paar Gedanken am Übergang von einer zu Ende gehenden in eine bevorstehende Legislatur. Ich habe diese Überlegungen mit einer Formulierung überschrieben, die vor vielen Jahren einmal eine Kampagne unserer Landeskirche prägte, die ich nach wie vor für äußerst gelungen halte. Mir jedenfalls scheint sie noch heute sehr inspirierend zu sein: „Kirche – mehr als man glaubt“. Das darf zumindest ich selber immer wieder so erleben, zum Beispiel bei den Visitationen oder auch vielen anderen Begegnungen in Gemeinden und Einrichtungen: Kirch ist wirklich so viel mehr als man normalerweise im Blick hat, ist mehr als womit man/frau rechnet.
Doch lassen Sie mich diesen Bericht zunächst mit einer Erinnerung an einen Geburtstagsbesuch vor ein paar Wochen bei einem älteren Ehepaar beginnen:
Kaum, dass ich im Wohnzimmer Platz genommen hatte, ging es auch schon um den Gesundheitszustand des Jubilars. Er meinte zu meiner Verblüffung, dass er jetzt jünger sei als vor einem Jahr. Des Rätsels Lösung war ein neues Kniegelenk und damit verbunden ein ganz neues Lebensgefühl. Doch bald schon kam die resolute Intervention der Ehefrau: Jetzt möge es doch nicht nur um die Wehwehchen von ihnen, den beiden Alten, gehen. Sie würde vielmehr interessieren, welche Sorgen denn der Dekan hat. Mit einer derart problemorientierten Interessenslage hatte ich nicht gerechnet und zudem hatte ich noch die Mahnung des Wiener Pastoraltheologen, Prof. Dr. Paul Michael Zulehner, im Kopf, der uns Dekane der Prälatur Reutlingen anlässlich einer Begegnungsreise gemahnt hatte, nicht so viel zu jammern. Er riet dazu, ein Sparschwein aufzustellen und sich dazu zu verpflichten, bei jeder selbstverantworteten Klage 5 Euro einzuwerfen.
Was nun also tun, der Geburtstagsbesuch hätte unter diesen Umständen teuer werden können. Und wie könnte es auch anders sein, ich suchte einen Mittelweg, nannte kurz, was mich besorgt und versuchte dann von positiven Erfahrungen zu berichten, von meiner Freude bei den Visitationen, von wohltuenden und anregenden, sehr gut vorbereiteten Gottesdiensten, von den vielen äußerst empathisch gestalteten und dankbar erlebten Kasualien, von dem bewundernswerten Engagement so vieler Ehrenamtlicher, auch von dem sehr erfreulichen Zuspruch, den wir als kirchliche Träger von Bildungseinrichtungen, von diakonischen Initiativen und Beratungsdiensten, von kulturellen Angeboten erfahren, von dem weithin unkomplizierten und wirklich vertrauensvollen Miteinander in der Ökumene, von neuen quartiersbezogenen, gemeinwesenorientierten Aktivitäten, von inspirierenden Predigtreihen, von 40 Jahren Evangelische Bildung im Kreis Reutlingen, von der herausragend positiven Resonanz, die unsere Citykirche auch in überregionalen Medien in diesem Sommer gefunden hat und und und. Ich hätte auch sprechen können von dem großen Maß, das Ehrenamtliche in unseren Gremien, also vom nicht vergnügungssteuerpflichtigen Teil kirchlichen Engagements, davon, dass Sie alle sich so gewissenhaft und umsichtig in der Gremienarbeit einbringen und damit die Geschicke der Gemeinden und unseres Bezirks mittragen und -verantworten. Ich gebe es zu, ich habe gar nicht von all dem gesprochen, obwohl ich in diesem Duktus noch von so viel mehr hätte sprechen können, was ermutigt und durchweg erfreulich ist, doch musste ich schnell wahrnehmen, dass die Aufmerksamkeit bei der Auflistung all dieser positiven Eindrücke bei meinen Gesprächspartnern nachließ. Kaum, dass ich Atem holte, fragten sie zur genannten Sorge nach. Diese und die möglichen Gründe für sie, waren offensichtlich für die älteren Gemeindeglieder viel interessanter. Und ja, ich weiß, dass man eigentlich viel mehr übers Positive reden sollte, allein
I. Die Sorge: Kontinuierlicher Rückgang unserer Mitgliedschaftszahlen
wir kommen nicht umhin: die Zahl der Gemeindeglieder auch in unserem Kirchenbezirk wird immer kleiner, und wiederum ja, damit sind auch erhebliche Sorgen verbunden. In vielen KGR-Gremien ist es inzwischen eine schon fast traurige Routine, wenn die Mappe mit den Austritten herumgereicht wird oder wenn wir die Zahlen des letzten Stichtags zur Kenntnis nehmen: Und wieder sind wir weniger geworden.
Wir wissen alle darum und wissen doch meist nicht wirklich, wie damit umgehen. Um die Situation noch einmal grob zu skizzieren möchte ich Ihnen eine graphische Darstellung der EKD zeigen, die sich aus der im Juni veröffentlichen Studie „Kirche im Umbruch“ des Forschungszentrums Generationenverträge der Universität Freiburg ableitet. Wir sehen die Entwicklung der Alterskohorten der Kirchenmitglieder (evangelisch und katholisch) nach Frauen (rot) und Männer (blau) unterschieden. Wir sehen die Entwicklung von 2017 – 2035 und danach weiter bis 2060
[Video-Clip zeigen]
Nicht nur dass wir weniger werden, wird aus dieser Darstellung sehr verständlich, sondern vor allem auch dass wir als Kirchenmitglieder immer älter werden.
Ein zweiter Blick auf Zahlen und Fakten, nun konkreter auf unseren Kirchenbezirk bezogen:
[Evtl. Folien]
In der vergangenen Legislatur, also in den Jahren 2013-2018 betrug der Mitgliederrückgang -5.712, von 69.567 auf 63.855, das entspricht -8,2 %.
In den vergangenen zwei Legislaturperioden, von 2007 bis 2018 betrug der Mitgliederrückgang -11.131, von 74.986 auf 63.855, das entspricht -14,8 %.
Der Gemeindegliederrückgang in den einzelnen Gemeinden verhält sich dabei sehr unterschiedlich:
Im Blick auf die vergangenen sechs Jahren zwischen +0,6 % (Hausen) und -16,5 % (RT Katharinenkirche).
Im Blick auf die vergangenen zwölf Jahre zwischen -4,8% (Genkingen) und -24,9% (RT Auferstehungsgemeinde)
II. Gründe und Erklärungen
Immer wieder begegnete mir in den vergangenen Jahren die Frage: Und, was kann man dagegen tun? Da muss man doch etwas dagegen machen? Doch so vielfältig die Ursachen sind, so wenig gibt es den einen Hebel, mit dem man etwas dagegen machen könnte.
Die Entwicklung des kontinuierlichen Mitgliederrückgangs hat vielerlei Gründe:
- demografische,
- finanzielle,
- kircheninstitutionelle,
- soziologische,
ganz sicher jedoch bringen sie auch theologische Herausforderungen mit sich.
Über die demografischen und finanziellen Gründe jetzt und hier an dieser Stelle weiter zu sprechen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Das wissen wir alle nur zu gut, dass wir älter werden, dass das Modell der Kirchensteuer in individueller Perspektive immer weniger Akzeptanz findet. Und wenn junge Erwachsene zum ersten Mal in Lohn und Brot stehen oder Menschen zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig ihren Lebensstandard versuchen zu entwickeln und zu etablieren – Familienphase, Wohneigentum, Urlaub, Freizeit usw. – und dann die finanziellen Spielräume zu optimieren versuchen, dann stoßen sie über kurz oder lang auch auf die Kirchensteuer und dann hängt es entscheidend davon ab, welche Bindefaktoren zu Kirche bisher schon da waren. Diese Zusammenhänge kennen wir gut.
Von kircheninstitutionellen Gründen sollte beim Blick auf Gründe für die kleinerwerdenden Mitgliedschaftszahlen natürlich auch gesprochen werden. Die Verbindung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer ist durchaus fragwürdig. Die Komplexität von Kirche und die damit einhergehende Frage, wofür steht denn nun meine Kirche, ebenfalls. Welches Bild von Kirche insgesamt geben wir ab? Wer spricht für Kirche? Usw. Fehlverhalten von Amtsträgern – gleich welcher Konfession – wirkt sich ebenfalls sehr negativ aus, von der goldenen Badewanne in Limburg bis zur hochproblematischen journalistischen Vergangenheit eines nun endlich zurückgetretenen Dresdner Bischofs. Ärger und Enttäuschung über Kirche führt jedenfalls nach wie vor in einem nicht unerheblichen Maß zur Entfremdung von Kirche. Auch hierzu gäbe es wohl eine lange Liste an Themen, die wir zusammentragen könnten. Also sozusagen alles hausgemachte Gründe.
Deutlich komplexer ist der Blick auf die soziologischen Veränderungen, wobei es meines Erachtens zwei Grundbegriffe sind, die gleichsam den gemeinsamen Nenner dieser Veränderungen bilden, zum einen den der Optimierung des Lebens und damit verbunden den des Wachstums. Beides Antriebe, die ungeheure Energie entfalten können.
Es ist deutlich zu beobachten, dass wir in nahezu allen Lebensbereichen und fast immerzu darauf bedacht sind, das Beste erreichen zu wollen. Wir versuchen, die Zeit noch sinnvoller auszunützen, die persönlichen Gesundheitsdaten noch besser im Blick zu haben, noch effizienter zu haushalten usw. Auch Wochenenden wollen perfekt geplant sein, damit alle auf ihre Kosten kommen, möglichst alle Ansprüche irgendwie befriedigt werden. Schon vor über 25 Jahren beschrieb die Wiesbadener Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer diese Entwicklungen unter dem Titel „Das Leben als letzte Gelegenheit“[1] „Um Zeit zu sparen und in der Enge der Zeit mehr Raum zu haben,“ schrieb sie schon damals „muß die Welt ganz allgemein griffbereit zurechtgelegt werden.“ (S. 125)
Damit legt sie eine Spur, die Hartmut Rosa, der in Jena lehrende Soziologe, in diesem Jahr mit einem kleineren Büchlein wieder aufnimmt und weiterführt.[2] Es geht ihm dabei um den – wie er es formuliert – den kategorischen Imperativ der Moderne: „Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird.“ (S. 17) Rosa macht am Beispiel des Kontostandes deutlich, wie diese Weltreichweitenvergrößerung funktioniert: Ist der Kontostand hoch „dann liegen die Kreuzfahrt in die Südsee, das Wochenendhäuschen in den Alpen…, der Ferrari, … die Ayurveda-Kur in Südindien oder eine geführte und gesicherte Tour auf den Mount Everest in unserer Reichweite, sind wir Milliardäre, kommen sogar ein Flug zum Mond oder zum Mars in Betracht. Sind wir dagegen tief im Soll, können wir uns vielleicht den Bus nach Hause, das belegte Brötchen und die Kellerwohnung nicht mehr leisten: Sie liegen außerhalb unserer finanziellen Reichweite.“ (S. 17) Die Grundschwierigkeit jedoch taucht immer da auf, wo Weltreichweitenvergrößerung auf Unverfügbarkeit trifft. Rosa erzählt z.B. vom Schnee, der eben dann fällt, wo und wann er will. „Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen … wir können des Schnees nicht habhaft werden.“ Wie fragwürdig sind dagegen all die Versuche, Schneesicherheit in Wintersportorten zu garantieren, ein „Kunstschnee“ genanntes Wasser-Salzgemisch zu produzieren, ohne Rücksicht auf all die damit verbundenen ökologischen Probleme. Es ist nur ein Beispiel, zig andere ließen sich anführen, die allesamt belegen, wie wir versuchen, uns die Welt verfügbar zu machen. Wenn wir aber selber zu Weltverfügern werden, dann verliert das Unverfügbare an Relevanz. „Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen“ – so Hartmut Rosa – „ist die Vorstellung, der Wunsch, und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.“ Und dann formuliert er noch konsequenterweise: „Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.“ Für ihn ist das keine explizit metaphysische Einsicht, keine religiöse Überzeugung, sondern eine Alltagserfahrung und erinnert dazu an Sepp Herberger: Auf die Frage, warum denn die Menschen ins Fußballstadion gingen, soll er geantwortet haben, weil sie nicht wissen wie es ausgeht. Ist es mit Kirche so viel anders? Wo bleibt die Relevanz des Unverfügbaren, für die Kirche doch auch Zeugnis gibt? Bleibt in einer Welt der Weltverfüger Kirche dann auf der Strecke?
Noch eine weitere Spur der soziologischen Reflexion unserer Gegenwart, die meines Erachtens ebenfalls eine große Bedeutung auch für unser Nachdenken in diesem Zusammenhang hat, führt zu den Individualisierungstendenzen, die beispielsweise der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in einer großen Analyse als „Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt.[3] Der Drang nach individuellen Lebensentwürfen wird immer größer. Die Logik der Selbstverständlichkeiten nimmt ab, auch und gerade im Blick auf Kirche und die Mitgliedschaft bei Kirche. Man gehört heute nicht mehr einfach selbstverständlich irgendwo dazu, man lässt sein Kind nicht mehr selbstverständlich taufen usw.. Selbstverständliche Kirchenzugehörigkeit geht zurück, bewusste Entscheidung für oder gegen Kirche nimmt zu. Eine Logik der Kirchenzugehörigkeit verlangt so immer mehr nach individuell plausiblen und sich immer wieder als relevant erweisenden Gründen.
Liebe Synodalinnen und Synodale, die Zeit erlaubt es jetzt nicht, diesen vielerlei Spuren jetzt weiter und genauer zu folgen. Was wir jedoch deutlich erkennen, ist, dass die Lage sehr viel komplexer ist, als wir sie oft wahrnehmen, und dass wir uns vielleicht auch deshalb so schwer tun, uns darauf als Kirche einzustellen.
Bevor ich nun jedoch trotzdem zwei, drei Vorschläge machen will, möchte ich noch ganz kurz eine Beobachtung aus meinen Visitationen einfügen. Wenn ich mir die Lage unserer Gemeinden bei den Visitationen näher bewusst machen darf, dann stelle ich ganz überwiegend fest, dass und wie vital das jeweilige Gemeindeleben ist. Zuweilen habe ich tatsächlich den Eindruck, mehr geht nun wirklich nicht mehr. Es sind ja begrenzte personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen, aber die werden großartig genutzt. Und trotzdem müssen wir alljährlich die neuen Zahlen wahrnehmen, dass wir insgesamt wieder weniger geworden sind, und bekommen dann so gleichsam einen statistischen Schlag in den Nacken.
III. Mögliche Konsequenzen
Was also tun?
Es gibt in unseren Gemeinden, in Gremien und Fachkreisen mancherlei Ansätze und Überlegungen. Wenn ich mich jetzt auf zwei, drei Punkte konzentriere, dann ist das ganz gewiss sehr subjektiv und nur eine Auswahl, auch kein Konzept, sondern wirklich nur ein Impuls. Und doch ist es mir ein Anliegen, diese zwei, drei Akzente heute zu setzen, ganz allgemein formuliert:
Wir müssen über mehr unsere Gegenwart reden (a.) und wieder mehr mit Zukunft rechnen (b.). Was meine ich damit genauer?
Ad a.)
Über die Gegenwart reden heißt für mich zunächst einmal, dass wir die Situation und die Komplexität der Situation wahrzunehmen versuchen, dass wir die Säkularisierungsschübe dieser Gesellschaft wahrnehmen und auch zur Sprache bringen. Es hilft nichts, diese Entwicklungen und die gerade genannten Ursachen zu verdrängen. Wir müssen darüber reden, was dies wirklich für die Gesellschaft und auch für uns als Kirche bedeutet, wenn zum Beispiel wir immer weniger Geld zur Verfügung haben, weil wir weniger sind und wir andererseits doch zum Beispiel als zweitgrößter Kindergartenträger in Reutlingen mithelfen wollen bei der Erfüllung der Bedarfsplanung, wir doch eigentlich nicht passiv dastehen können und wollen, wenn es um zusätzliche Angebote und Plätze gehen soll. Das ist nur ein Beispiel, es gibt viele, wo wir in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen stehen werden und die zu bewältigen mit kleiner werdenden Ressourcen und Kapazitäten nicht leichtfallen wird.
Über unsere Gegenwart reden heißt für mich vor dem Hintergrund der rückläufigen Mitgliedschaftszahlen auch, dass wir als Kirche uns weiterhin überlegt und bewusst und vielfältig in die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskurse einbringen. Das Evangelium ist keine Privatangelegenheit, sondern richtet sich an die Welt: „Gehet hin in alle Welt“. Kirche hat Weltbezug und ist öffentlich. Wir bringen uns ein, ganz unabhängig von unserer zahlenmäßigen Größe. Wir bleiben gemeinwesenorientiert. Ein Rückzug auf ein vermeintlich Eigentliches, was immer das sein sollte, ist meines Erachtens der falsche Weg. Und über diese gemeinwesenorientierte und öffentlichkeitsbewusste Kirchengestalt müssen wir mehr, anschaulicher, beispielhafter reden. Wir müssen mehr Geschichten erzählen, warum es sich lohnt, Mitglied der Kirche zu sein und die Kirchensteuer zu zahlen. Wir müssen attraktiver und transparenter das kommunizieren, was Kirche Gutes tut. Wir brauchen einen Schub, mithin auch einen Professionalisierungsschub in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Das wird uns in Zukunft mehr Zeit und Geld kosten, aber ich persönlich halte es für unverzichtbar. Wir müssen mehr darüber reden, dass und wie die diakonischen Dienste, die kulturellen Angebote, die Bildungseinrichtungen finanziert werden, dass und wie unsere Kirchengemeinden Gemeinwohl mitgestalten. Und wir müssen diese Geschichten wohl auch professionell schreiben lassen und in verschiedenen medialen Formaten präsentieren. Es gibt bereits etliche topaktuelle und hochansprechende Homepages von kirchlichen Einrichtungen in unserem Kirchenbezirk, es gibt bereits superattraktive Gemeindebriefe, es gibt bereits superbegabte Social-Media-User, aber noch lange nicht genug. Wir müssen, mich eingeschlossen, diesbezüglich noch mehr Aufmerksamkeit und Engagement entfalten. Die Kommunikation des Evangeliums entscheidet sich auch an der Form. Und bei diesen Überlegungen muss natürlich klar sein, dass die dafür benötigte Zeit, die Kosten, nicht einfach zusätzlich ein- und aufgebracht werden können, sondern dass wir zugleich schauen müssen, was wir lassen können, wo wir Zeit und Geld nicht mehr aufwenden sollten.
Ad b.)
Im Kern noch wichtiger scheint mir jedoch, dass wir die mit dem Mitgliederrückgang verbundenen theologischen Herausforderungen auf- und annehmen. Die eingangs angesprochene Prognose 2060 verursacht weithin eine trübe Stimmung. Und tatsächlich macht es nur wenig Laune, für Ehren- wie für Hauptamtliche, mit dem Gefühl unterwegs zu sein, nurmehr den Rückbau von Kirche zu verwalten. Deshalb sind statistische Prognosen das eine, unsere Zukunftserwartung etwas anderes. „Wieder mehr mit Zukunft rechnen“ will ich nun nicht als einen Slogan gegen das Kleinerwerden von Kirche verstanden wissen, sondern als eine theologische Aufgabe.
Mit all den vorhin aufgezeigten soziologischen Spuren wird deutlich, dass wir in einer Zeit ungeheurer Diesseitsfixierung leben. Alle Erwartung konzentriert sich aufs Hier und Jetzt. Hier das Bestmögliche verfügbar zu haben, das ist der Motor für den Einzelnen wie für die moderne Gesellschaft. Das Smartphone ist nur ein Symbol dafür. Es geht dabei nicht nur um technische Verfügbarkeit und um Minimierung von Risiken, sondern um Zugang zur Welt, zu Lebenssinn. Die Vorstellung, dass unser Sein und Tun hier und jetzt Stückwerk bleibt, dass unser Leben und Arbeiten hier und jetzt unvollkommen bleibt, dass unser Streben und Mühen hier und jetzt nicht zum gewünschten Ziel führt, ist unangenehm. Im Gegenteil, es wird mit geradezu unmenschlichem Anspruch daran gearbeitet, diese Vorstellung überflüssig zu machen. Ein Paradigma unserer Zeit ist das der Selbstoptimierung in allen Lebensbereichen. Das Ziel ist Verwirklichung und Vervollkommnung im Hier und Jetzt. Die österreichische Publizistin und Journalistin Renata Schmidtkunz kommt in ihrem Büchlein „Warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen“ deshalb zu dem Schluss: „Der Himmel ist leergeräumt“ (S. 19)[4] , weil scheinbar alles Wichtige hier auf Erden seinen Platz hat. Und wenn der Himmel leer ist, dann – so die naheliegende Schlussfolgerung – braucht es auch keine Gemeinschaft des Glaubens mehr, die mit mehr rechnet als man hier auf Erden sieht.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ sagt Jesus und verweist damit auf eine andere Wirklichkeit als die unmittelbar einsichtige und uns verfügbare. Und genau damit bin ich nun bei der theologischen Herausforderung und der Frage: Wie machen wir in Jesu Namen auf den Himmel aufmerksam und darauf, dass der Himmel voller Barmherzigkeit und Leben ist? Mit welchen Worten und Bildern? Wie reden und verstehen wir Transzendenz? Wie predigen wir das Reich Gottes? Und: Rechnen wir überhaupt noch mit einem Jenseits? Meines Erachtens ist das unsere Aufgabe, dass wir den Menschen wieder Mut machen, mit mehr zu rechnen, als sie erreichen können, mit mehr, als sie vollenden können. Und dass wir ihnen Mut machen, auf etwas zu hoffen, was wir nicht begreifen können. Wir sollten Mut machen, wieder mehr mit Zukunft zu rechnen, dass nicht alles Hier und Jetzt erledigt und erlebt werden muss, sondern wir getrost auf die Vollendung allen Lebens im Himmel warten dürfen. Vielleicht schlicht, aber warum nicht: „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann“ so Leo Tolstoi. Sollten wir nicht auch wieder lernen, mehr zu warten. Sollten wir nicht mehr von unserer Erwartung reden? Wir brauchen eine Theologie des Wartens, die mit mehr als Gegenwart rechnet. Scheuen wir uns nicht, davon zu reden, von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, von jenem Reich, das nicht von dieser Welt ist. Reden wir von Transzendenz-Erwartungen, nicht als billige Jenseitsvertröstungen, ganz und gar nicht, sondern als Ermutigung, die Mehrdimensionalitäten des Lebens schätzen zu lernen und die Unvollendetheiten annehmen zu können. Reden wir vom Unverfügbaren, und setzen darauf unsere Hoffnung.
Die Potentiale unserer Kirchenräume erkennen und nutzen
Liebe Bezirkssynodale, lassen Sie mich nun noch einen abschließenden Gedanken anführen, der meines Erachtens ganz viel Potential enthält, dem Rückbaunarrativ und auch der Transzendenzvergessenheit zu widersprechen. Nun gar nicht in erster Linie mit Worten, sondern mit Steinen und Bildern, mit stein- und bildgewordenen Geschichten, die Erinnerung bewahren und Verheißung veranschaulichen. Ich spreche von unseren Kirchen. Ich möchte an dieser Stelle noch in aller Kürze einmal mehr ein Plädoyer für die Wahrnehmung und Wertschätzung unserer Kirchenräume setzen. Vor einigen Tagen wurde ich einem mir persönlich unbekannten Altstadtbewohner vorgestellt, der mir – nachdem er „Dekan = Kirche“ assoziiert hatte – sofort sagte: „Ach ja, dann sind sie ja in der Marienkirche tätig: mein Ruheort!“ Das hat mich berührt, die Marienkirche, sein Ruheort. Er schätzt ganz offensichtlich diesen besonderen ruhigen Ort inmitten einer häufig eher unruhig erscheinenden Stadtwirklichkeit. Er schätzt ihn auch als einen ruhigen Ort, der im Kontrast zur Unruhe seines Berufes steht, im Kontrast zu der Weltwirklichkeit, die er sonst an anderen Orten erlebt.
Der Kirchenraum, der mitten in der Welt und im Alltag, doch auch von einer anderen Welt zeugt. Kirchen sind Räume, die Transzendenz ermöglichen, die dazu einladen, über sich nachzudenken und über sich hinaus zu denken. Kirchenräume erinnern und verheißen. Kirchenräume sind unverwechselbar. Sie sind der offenkundigste Ausdruck von Kirche. Mit unseren Kirchen sind wir gegenwärtig mitten drin im öffentlichen Raum. Und diese Räume sind öffentlich und hoffentlich immer mehr auch wirklich offen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Potentiale dieser Räume noch weiter erschließen, aufschließen sollten. Kirchen sind mehr als man glaubt. Der KBA hat sich in der vergangenen Legislatur mit dem Thema der Kirchenraumtheologie im Rahmen eines Klausurwochenendes beschäftigt. Seit diesem Jahr lade ich zu einem Arbeitskreis Kirchenraum ein, der sich etwa zweimal im Jahr in verschiedenen Kirchen unseres Bezirks trifft ein. Das nächste Treffen findet am Freitagabend 8. November, um 19:30 Uhr in Sickenhausen statt. Im Mittelpunkt des Abends stehen die Glasfenster von Rudolf Yelin d.J., die er in Kirchen unseres Kirchenbezirks realisiert hat. Die Kunsthistorikerin und Kirchengemeinderätin Christa Birkenmaier aus Mössingen hat zu Yelin geforscht und eine neue Publikation herausgebracht.[5] Sie wird an diesem Abend, zu dem alle ganz herzlich eingeladen sind, sprechen.
Ich möchte am Thema „Was wir an und mit unseren Kirchen haben“ dranbleiben, auch hier in der Bezirkssynode. Und so will ich jetzt schon ankündigen, dass wir uns in der nächsten Legislatur im Rahmen einer thematischen Synodalsitzung schwerpunktmäßig mit unseren Kirchen und ihren Potentialen beschäftigen werden.
Liebe Bezirkssynodalinnen und -synodale,
nun habe ich ein paar Gedankenskizzen in diesem Dekansbericht vorgetragen, die allesamt eine gründlichere Ausarbeitung verdient gehabt hätten. Es sollten für den Moment nur einige Impulse sein. Es sind Überlegungen, die wesentlich auch dadurch motiviert sind, dass ich, dass wir den mit dem Mitgliederrückgang verbundenen Sorgen konstruktiv und aktiv begegnen wollen. Es sind Ansätze, die mich beschäftigen. Und gerne komme ich dazu oder zu ganz anderen Ansätzen mit Ihnen ins weitere Gespräch, ob persönlich oder auch in ihren Gemeinden, ob jetzt gleich nachher oder auch zu einem vereinbarten Termin. Ich freue mich, wenn wir auch außerhalb von Gremien solche Themen besprechen und miteinander nach ermutigenden Wegen suchen und so deutlich machen können: „Kirche – mehr als man glaubt.“
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Reutlingen, den 18. Oktober 2019
[1] Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 52014.
[2] Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 42019.
[3] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 52018.
[4] Renata Schmidtkunz, Himmlisch frei, warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen, Wien 2019.
[5] Christa Birkenmeier, Rudolf Yelin d.J. 1902-1991, Leben und Werk, Petersberg 2019.