Können wir Geduld?

Immer wieder taucht in Bewerbungsgesprächen die Frage nach den Schwächen auf. Und für manche scheint es dann eine besonders geschickte Antwort zu geben: Ja eine Schwäche von mir ist die, dass ich manches mal zu ungeduldig bin. Das soll dann umgekehrt heißen: Ich bin halt so motiviert, dass es mir nicht schnell genug gehen kann. Und schwuppdiwupp ist aus meiner Schwäche eine vermeintliche Stärke geworden.
Was ich noch nie in Bewerbungsgesprächen erlebt habe, ist allerdings die Frage nach der Geduld. Dabei kommt es doch in vielen Lebenssituationen genau darauf ganz wesentlich an, dass man Geduld hat.
Aktuell brauchen wir viel davon, alle miteinander, um die Belastungen der Pandemie zu ertragen.
Können wir Geduld? Mehr oder weniger ungeduldig warten wir auf ein Ende dieser Pandemiewelle. Wann endlich ebbt sie ab? Wann kommt der Tag, ohne das Signalwort Corona in den Nachrichten? Wann können wir wieder froher und unbekümmerter leben?
In einer der biblischen Ursprachen – im Hebräischen – gab es lange kein richtiges Wort für Geduld. Es wurde oft umschrieben, zum Beispiel mit „einen langen Atem haben“. Unser deutsches „langmütig sein“ kommt aus dieser Tradition. Geduld zu haben – gerade jetzt in dieser Phase der Pandemie – könnte in diesem Sinn dann nicht nur heißen, dass wir viel Unangenehmes und Schlimmes ertragen müssen, sondern auch, dass wir uns in Langmut üben sollten. Wir brauchen einen langen Atem, bis wir wieder aufatmen können. „Gott gab uns Atem, damit wir leben,“ klingt ein neueres Kirchenlied in mir auf. Auch wenn ich gerade im Gottesdienst nicht singen kann, kommen mir immer wieder Textzeilen von Liedern in den Sinn und erinnern mich: Ja, das ist doch meine Hoffnung, dass Gott mir den nötigen Atem schenkt, Langmut, Geduld.
Eine ganz besondere Geduldsprobe ist sicherlich die jetzt beginnende Adventszeit, diese Wartezeit auf das Fest. Wie wir es dieses Jahr feiern werden, ist weithin noch ungewiss, doch dass Gott in uns ankommen wird, oder anders formuliert, dass er mit uns in Kontakt kommen will, unabhängig von allen sonstigen Abstandsgeboten, das bleibt hoffentlich für viele gewiss. Diese Hoffnung lasse ich mir jedenfalls nicht nehmen. Geduld und Hoffnung hängen ja unauflöslich miteinander zusammen. Geduld macht da Sinn, wo Hoffnung ist.
Bleibt am Ende also der Wunsch für uns alle, nach viel Geduld und Hoffnung in dieser Adventszeit 2020. Und wenn uns der Atem auszugehen droht, dann möge der mit seinem Langmut uns neu beatmen, dessen erste Atemzüge wir an Weihnachten feiern. Und für den allemal gilt: Er kann Geduld.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen

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