Mit der Verleihung des Jerg-Ratgeb-Preises 2018 der HAP Grieshaber Stiftung Reutlingen an den Bildhauer Olaf Metzel ist im Städtischen Kunstmusuem Spendhaus Reutlingen eine große Einzelausstellung von Holzschnitten und installativen Arbeiten Olaf Metzels verbunden. Eine im Garten des gegenüberliegenden Heimatmuseums im Zusammenhang dieser Ausstellung platzierte Bronzeskulptur mit dem Titel „Turkish Delight“ sorgt seitdem für mehr oder weniger latente Auseinandersetzungen. Olaf Metzel schuf die Figur, eine kopftuchtragende, nackte, junge Frau, bereits 2006 und zeigte sie seitdem in sehr unterschiedlichen specific sites, erstmals beim „art, life & confusion“ übertitelten 47. Oktober Art Salon in Belgrad 2006. Im Jahr darauf war sie auf dem Wiener Karlsplatz zu sehen und war dort wiederholt heftigem Vandalismus ausgeliefert, ehe sie vom Karlsplatz wieder genommen werden musste. Anders ergeht es ihr freilich im geschützten Raum von Museen, z.B. in der Hamburger Kunsthalle oder im Rahmen einer temporären Ausstellung in der Neuen Pinakothek in München 2016.
Der Reutlinger Standort nun ist gleichsam ein hybrider Ort, ein öffentlicher Raum und Museumsgarten zugleich, tagsüber für jedermann und -frau frei zugänglich und doch „hinter Mauern“, paradox formuliert: ein offener hortus conclusus. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass die Debatte über Olaf Metzels Turkish Delight einige Zeit brauchte, bis sie größere Aufmerksamkeit erfahren hat und sie vielleicht immer noch nicht das ganze ihr innewohnende Diskussionspotential ausgelöst hat. Wäre sie beispielsweise im Bürgerpark oder auf dem Weibermarkt platziert worden, hätte sie dort vielleicht dasselbe Schicksal ereilt wie seiner Zeit in Wien. Obgleich es auch in Reutlingen schon zu Umstürzungen der Figur kam, fielen bislang jedoch die Museumsverantwortlichen in ihrer Haltung nicht um. Sie nehmen für sich in Anspruch, den Garten des Heimatmuseums auch mit im Zweifelsfall herausfordernder Kunst zu bespielen und ihn als einen Hort der Kunstfreiheit zu verteidigen. Und in der Tat ist der „halböffentliche“ Garten des Heimatmuseums ein ungleich geschützterer und schützenderer Raum als beispielsweise eine Fußgängerzone oder ein öffentlicher Platz, womit deshalb vielleicht auch die Chance verbunden ist, einen differenzierten, öffentlichen Diskurs insbesondere auch zu Fragen der Kunst- und Religionsfreiheit zu führen. Beide hermeneutischen Kontexte, der der Kunst wie der der Religion werden seitdem mehr oder weniger öffentlich aufgerufen. Als Vorsitzender des Vereins für Kirche und Kunst in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg möchte ich im Folgenden einige Überlegungen zu dem von Olaf Metzels Bronzeskulptur „Turkish Delight“ ausgelösten Diskurs beitragen.
Ursprünglich im Rahmen einer Ausstellung
Die Ausstellung überschrieb Metzel mit dem programmatischen Titel „Mir ist das schwarze Quadrat lieber als die rote Fahne“ und rief damit Resonanzen hervor, in denen kunsttheoretische und politische Diskurse von vor 100 Jahren mitschwingen. 1915 zeigte Kasimir Malewitsch in der legendären futuristischen Ausstellung 0,10 in der Petersburger Galerie Dobytčina das Gemälde „Das schwarze Quadrat“, das zu einer Ikone der Moderne werden sollte. Malewitsch selber sprach in diesem Zusammenhang von einer sich in diesem schwarzen Viereck auf weißer Grundfläche ausdrückenden „Empfindung der Gegenstandslosigkeit“. „Das schwarze Quadrat“ war gleichsam Ziel und Ausgang aller Abstraktion und damit ein absoluter Ausdruck, der alle zuvor unternommenen Relationen der Malerei überwunden hat. In diesem Sinne ist damit auch ein revolutionärer Impetus verbunden und dies in einer Zeit, als auch politisch revolutionäres Fieber um sich griff. Erinnert sei an die russische Oktoberrevolution 1917 oder dann auch an die deutsche Novemberrevolution 1918. Aus diesem revolutionären Geist heraus kam es bald schon zur Gründung eines kommunistischen Parteiorgans, das unter dem Titel „Die rote Fahne“ ab Januar 1919 erschien. Das Identifikationszeichen sozialistisch-kommunistischer Bewegungen hat nun aber gewiss einen ganz anderen Bedeutungshorizont als jenen, in dem sich Malewitsch mit seinem „schwarzen Quadrat“ bewegt und zu dem er im Ausstellungskatalog 1915 schreibt: „Ich habe die Knoten der Weisheit durchschlagen und das Bewusstsein der Farbe befreit. […] Ich habe das Unmögliche überwunden und die Abgründe zu meinem Atem gemacht. Ihr aber zappelt in den Netzen des Horizonts wie Fische! Wir, die Suprematisten, bahnen euch den Weg.“ „Das schwarze Quadrat“ wurde zum Durchbruch der Abstraktion stilisiert und damit zum denkbar höchsten Ausdruck der Malerei. Ein Kulminationspunkt moderner Kunst war erreicht und mit ihr eine Freiheit, die fortan alles möglich zu machen schien. Durch das Erreichen und Hintersichlassen dieses Zustands der Freiheit von Gegenständen wurde erst Freiheit für neue Figurationen möglich. Malewitsch selber beschritt diesen Weg mit neuen figurativen Ansätzen in seinem Spätwerk, gerade auch mit der Darstellung arbeitender Menschen.
Olaf Metzels Reminiszenz an „Das Schwarze Quadrat“ einerseits und die unter roten Fahnen marschierende Weltanschauung andererseits, die er mit seinem Reutlinger Ausstellungstitel wachruft, birgt meines Erachtens Gedankenanstöße, über deren mögliche Wirkungen es sich lohnen würde, weiter zu diskutieren. Vielleicht ist der Gedankenschluss, der im „Schwarzen Quadrat“ einen Ausdruck der Freiheit, mindestens der Freiheit der Kunst sieht und der unter der roten Fahne eine Bewegung wahrnimmt, die sukzessive die Menschen ihrer individuellen Freiheit beraubt, ein voreiliger oder mutet allzu schwarzweiß an, aber es ist m.E. reizvoll, diesen Titel in der Debatte um einen Teil der gesamten Ausstellung mit zu bedenken.
Von der ersten Herausgeberin der Roten Fahne, von Rosa Luxemburg, ist das berühmte Diktum überliefert, wonach „Freiheit immer die Freiheit des anders Denkenden“ sei. Dahinter steht ein Verständnis kompetitiver Freiheiten, die dann zum Ausgleich gebracht werden, wenn die Denkenden einander achten. Und um eben eine solche Achtung geht es nun in der Debatte um Olaf Metzels Figur sowohl jenen, die sich in ihren religiösen Empfindungen unangenehm getroffen fühlen, als auch jenen, die die Freiheit der Kunst durch die Kritik insbesondere von Vertretern islamischer Institutionen in Frage gestellt sehen. Und das wechselseitige Gefühl der Missachtung wird zudem dadurch verstärkt, dass die hermeneutischen Horizonte der sich einander begegnenden Positionen grundverschieden sind. Ist auf der einen Seite ein religiöses Gefühl verletzt, mithin deshalb weil die Darstellung von Nacktheit im Islam ebenso wie die Abbildung eines menschlichen Gesichtes höchst relevante religionsgesetzliche Themen sind,[1] ist auf der anderen Seite nicht nur die Freiheit der Kunst, sondern auch eine postmoderne Ästhetik angegriffen, der entsprechend Nacktheit in Bild und Fotografie selbst im öffentlichen Raum weithin unanstößig ist.
Kunst- und Religionsfreiheit als „Kinder“ der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
Die Frage ist nun also, ob das Muster eines Gegeneinanders von religiösem Gefühl einerseits, das – grundgesetzlich verbürgt (Art. 4 Abs. 1) – Unverletzlichkeit für sich in Anspruch nimmt und andererseits der ebenfalls im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 1 u. 3), ob diese Frontstellung richtig und hilfreich ist. Meines Erachtens ist sie beides nicht, weder richtig noch hilfreich.
Das Grundgesetz verhilft in den Grundrechten sowohl der „Freiheit des Glaubens“, des „Gewissens“ und „des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ zu ihrem unverletzlichen Recht als auch jedem Menschen zum Recht, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ und konkretisiert dazu noch „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
Beide Freiheiten also, die Religions- wie die Kunstfreiheit sind fest verankert in der freiheitlich-demokratischen Ordnung, die das Grundsetz unseres Landes selber ist. Kunst- und Religionsfreiheit sind Geschwister, die sich ein und derselben Abstammung verdanken. Wo die Kunstfreiheit angegriffen wird, bleibt die Religionsfreiheit nicht unberührt. Umgekehrt gilt, der Schutz der Kunstfreiheit stärkt auch die Religionsfreiheit, sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen Verständnis. Die in unserer Verfassung begründete Religionsfreiheit schützt das Recht zur Ausübung von Religion genauso wie das Recht auf Unterlassung von Religion. So verstanden ist Religion tatsächlich Sache jedes Einzelnen. Es darf weder Religionszwang noch Religionsverbote geben – solange sich Religion auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Gleiches gilt grundsätzlich auch für die Kunst und dennoch kam und kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen dem Recht auf religiöse Unverletzlichkeit und dem Recht der Kunstfreiheit. Die Konfliktgeschichte beginnt nicht erst seit der Islam zu Deutschland gehört. Sie nachzuerzählen sprengt den Rahmen der hier vorgetragenen Überlegungen, wobei es sich wohl ebenfalls lohnen würde, um hermeneutische Grundstrukturen der Diskurse zu dechiffrieren.
Was wir brauchen: Genaues Wahrnehmen und Vermitteln
Worauf es aus meiner Sicht ankommt, ist jedoch, dass solche Diskurse grundsätzlich nicht kompetitiv geführt werden sollten (wer hat mehr Recht), sondern mit dem Ziel der Vermittlung bzw. Übersetzung. Die in ihren religiösen Gefühlen sich angegriffen Fühlenden sprechen eine andere Sprache als die Verteidiger der Kunst. Sie erleben die Sprache der jeweils anderen als fremd. Sprachfähigkeit alleine reicht für den Dialog, als einer unabdingbaren Voraussetzung für Verständigung, nicht, es braucht Vermittler bzw. Übersetzer.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die genaue Wahrnehmung dessen, was in der Kritik steht. Und hierbei macht schon der Kontext des Diskussionsobjektes viel aus (wie oben angedeutet), aber noch mehr die Darstellung selber.
Olaf Metzels Bronzefigur, die junge, nackte, kopftuchtragende Frau, ist von ihrer Körperhaltung her bestimmt nicht provokativ, schon gar nicht etwa lasziv. Ihre Haltung strahlt eine sicherlich unstrittige Natürlichkeit aus, in die hinein sowohl eine gewisse Unsicherheit als auch Unbekümmertheit interpretiert werden kann. Sie steht aufrecht und zugleich entspannt. Ihr Kopf ist weder gesenkt noch hoch erhoben. Ihr Blick scheint weit Entferntes zu suchen, jedenfalls nicht das Auge des Betrachters. Sie steht für sich. Sie nimmt keinen Bezug zur unmittelbaren Umgebung auf. Sie reagiert nicht auf irgendetwas, noch deutet sie eine konkrete Aktion an. Sie steht einfach da und unsere Gedanken kreisen um sie. Mit ihrem Dasein und Sosein löst sie in uns etwas aus. Wir kommen ins Nachdenken. Wir sehen eine mit antik anmutender Patina überzogene äußerst natürliche Frauenfigur, inmitten eines Gartens, der selber wie eine Oase im Stadtraum wirkt, der ein Ort der Ruhe und des Rückzugs ist. Hier in diesem von einer alten Mauer und den Gebäuden des ehemaligen Königsbronner Pfleghofs umgebenden immer noch etwas monastisch anmutenden Garten (einem Klostergarten ähnlich) hat Voyeurismus keinen Platz. Die Würde der Umgebung passt zur Würde dieser nackten, jungen Frau. Irritierend wirkt sie nur durch ihr Kopftuch, das sie nicht abgelegt hat, sondern noch trägt. Durch diesen Hidschab identifizieren wir sie als Muslima. Sie soll so identifiziert werden. Sie steht zu ihrer Religion. Sie stellt sich nicht zur Schau. Der Garten des Heimatmuseums ist auch kein Schaufenster. Umgebung und Situation, Haltung und Ausdruck führen unweigerlich von der Betrachtung dieser jungen, nackten, kopftuchbedeckten Frau hin zu eigenen Einstellungen und Empfindungen der Betrachtenden. Sie sind bald schon mehr bei sich als bei der Figur.
Ich bin hoffnungsvoll, dass die allermeisten, die die Figur wirklich vor Ort gesehen haben, sich diesen letzten Sätzen oder ähnlichen Wahrnehmungen anschließen können. So gesehen aber wird das angenommene oder behauptete Konfliktpotential geringer. In der gemeinsamen und unvoreingenommenen Betrachtung liegt ein Schlüssel für ein gelingendes Übersetzen von der Sprache der Kunst in die Sprache der religiösen Gefühle und umgekehrt.
[1] Aufsehen erregte beispielsweise im Frühjahr 2006 ein Rechtsspruch eines ehemaligen Dekans der Fakultät für islamisches Recht der Al Azher-Universität in Kairo (Scheich Raschad Hassan Chalil im Januar 2006), wonach eine Ehe muslimischer Partner dann ungültig würde, wenn beide Partner beim Liebesakt vollständig nackt wären. Ob Metzel die große öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Fatwa nach sich zog und die in der islamischen Welt sehr kontrovers diskutiert wurde, wahrgenommen hatte, weiß ich nicht, aber dass er wenige Monate danach seine Arbeit „Turkish delight“ fertigte und benannte, lässt immerhin erahnen, dass das Thema der Nacktheit im Islam zum damaligen Zeitpunkt sehr aktuell war.