„Nicht zweifeln an dem, was man nicht sieht!“ | Dekansbericht 2020

Liebe Bezirkssynodale,

lange habe ich mir überlegt, ob und wie ich heute unter dem Titel „Dekansbericht“ das Wort ergreifen sollte und könnte.

Dieses Jahr 2020, und damit auch der Beginn dieser neuen Legislatur, ist so sehr von dem weltumspannenden Thema der Pandemie bestimmt, dass wir damit nahezu in allen Lebensbereichen konfrontiert sind und eben auch in unseren kirchlichen Zusammenhängen bislang unaufhörlich herausgefordert sind. Es will nicht enden, das Management der Krise. Ja, wir müssen geradezu feststellen: Es darf vorläufig auch nicht enden. Noch wissen wir nicht, wann die Zeit kommt, in der wir auf die Pandemie zurückschauen können, doch ahnen wir wohl alle, dass wir bis dahin noch ein gehöriges Maß an Geduld und Durchhaltevermögen brauchen, psychisch, und physisch, individuell und institutionell, ideell und finanziell.

Noch fahren wir in vielen Bereichen auf Sicht, müssen uns unter Umständen auch wieder sehr kurzfristig auch die sich verändernden Lagen anpassen. In der Lockdown-Phase des Frühjahrs stieß ich auf einen Satz, wonach „Zuversicht der grundlegende Treibstoff des Lebens“ sei. („Spiegel“, 19.04.2019) Ich habe diesen Gedanken dann in so manchen Andachten aufgenommen. Wir wollen vorankommen, wollen hindurchkommen, wollen die Pandemie überwinden, dazu braucht es Antrieb und also Zuversicht, trotz aller Unklarheit, allem Nebel, allem Unwissen.

Doch woher gewinnen wir Zuversicht? Der Glaube sei eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht, heißt es im Hebräerbrief (Kap 11, 1). Dieses Bibelwort wurde mir in den vergangenen Monaten immer wichtiger und darüber will ich reden. Das ist im Kern das Anliegen dieses Dekansberichts, die Erinnerung daran und Ermutigung dazu, nicht zweifeln an dem, was man nicht sieht.

Freilich, wir sehen viel Leid und Not, die diese fürchterliche Pandemie mit sich bringt. Wir könnten uns viele, sehr viele Geschichten dazu erzählen, in denen Menschen um ihre Gesundheit, ihr materielles Auskommen, ihre Lebenspläne bangen, um so vieles, was jenseits des Systemrelevanten doch auch so notwendig zum Leben gehört, das unbekümmerte sich Begegnen vor Ort und analog, das Erleben von Kultur in all ihren Facetten, das sich Aufmachen in andere Länder. Um nur ein konkretes Beispiel zu nennen, wie viele junge Erwachsene wollten dieses Jahr einen Freiwilligendienst in Übersee machen oder irgendwo im Ausland? Und konnten, durften es jetzt nicht. In das Altenheim in Jerusalem kamen dieses Jahr keine Freiwilligen, in die Ganztagesschule in La Paz auch keine. Von normalerweise über 30 Freiwilligen pro Jahr, die das Gustav-Adolf-Werk aussendet, waren es in diesem Sommer nur drei, die einen Freiwilligendienst antreten konnten. Und das ist nur eine von unzähligen Entwicklungen, die wir noch vor einem Jahr für unmöglich gehalten hätten.

Die Pandemie hat die ganze Welt erfasst und die damit verbundenen Sorgen haben auch viele von uns im Griff. Ängste begleiten uns und immer wieder auch ganz bedrängend die Frage nach dem Sinn des Ganzen, mithin die Frage nach Gott. Sehen wir in diesen Zeiten Gottes Gegenwart, sehen wir ihn am Werk?

Vor gerade mal gut eineinhalb Wochen feierten wir Erntedank, ein Anlass, um dem Schöpfer zu danken, dafür dass nicht aufhört Saat und Ernte. Ich selbst sah einen Erntedankaltar in einer unserer Bezirksgemeinden nicht weniger reich und schön gestaltet als in Vorjahren. Aber dieses Jahr fiel mir das besonders auf und gab mir noch mehr zu denken als sonst. Wie wenig selbstverständlich ist doch diese Ernte. Ich musste zurückdenken an die Sorge vieler Landwirte im Frühjahr, ob denn genügend Erntehelfer ins Land einreisen könnten, erinnerte mich daran, wie in Berlin die Landwirtschaftsministerin sich an uns, die Verbraucherinnen und Verbraucher wandte, um uns zu beruhigen: es wird genügend Lebensmittel geben, vielleicht nicht in der gewohnten Vielfalt, aber ausreichend. So etwas hatte ich in meinem Leben in unserem Land noch nicht erlebt, eine solche Ansage. Und ich ahnte, dass dieses Ministerinnenwort ja wohl doch einen dringenden Anlass hatte. Erstmals in meinem Leben als Westdeutscher waren Regale in den Supermärkten leer. Lieferketten waren unterbrochen. Wohin würde das führen? Und bei alledem, kaum irgendwem auf der Welt ging und geht es so gut wie uns in unserem Land. Überhaupt kein Vergleich zu den Abermillionen, deren bisherige Armut nun noch viel schlimmer wurde.

Der Predigttext an Erntedank war die Speisung der Viertausend, worin Jesus zitiert wird: „Mich jammert das Volk, … denn sie haben nichts zu essen.“ Es war eine ernste Situation, das wusste Jesus: „wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen“. Wir kennen die Geschichte und kennen den Zweifel der Jünger, wie das denn zugehen sollte, die Speisung von so vielen angesichts so weniger Brote. Es sind auch meine Zweifel, immer und immer wieder, wie das denn zugehen sollte, die viele Not mit meinen, unseren kleinen Möglichkeiten zu lindern. Auch im übertragenen Sinn, auch im Blick auf das Brot des Lebens. Wie kann ich, können wir denn da etwas ausrichten? Haben wir die Kraft, die Menschen zu erreichen und ihnen das zu geben, was sie brauchen? Was brauchen sie gerade jetzt in dieser Wüste der Pandemie, in der so viele Lebensquellen austrocknen?

Und auch im Blick auf unsere Gemeinden, auf uns als Kirche insgesamt? Wie soll denn das weitergehen mit immer weniger Gemeindegliedern, immer geringeren personellen und finanziellen Kapazitäten? Ja, wir machen Pläne, wir beraten uns und entscheiden. Wir suchen nach neuen Wegen und Konzepten, das alles machen wir und doch bekomme ich den Gedanken nicht aus dem Kopf: Was, wenn auch wir doch nur sieben Brote für viertausend haben?

Ich ahne die Alternative, vielleicht zu holzschnittartig, aber sie drängt sich mir doch auf, entweder wir bleiben im Rahmen unserer Möglichkeiten und zerteilen sieben Brote in viertausend Ministücke, von denen niemand satt wird, und resignieren dann früher oder später, oder wir wagen es jenseits dieser Alternative, von uns und unseren ach so beschränkten Möglichkeiten abzusehen und auf den hinzusehen, der uns als Schöpfer und Retter zugleich begegnet.  Wir wissen nicht wie, aber es reichte damals, weil es Christus war, der den Jüngern den Auftrag zum Teilen, zum Austeilen gab. Reicht uns das, das zu wissen, dass Christus uns helfen kann und wird?

Der Prediger an Erntedank – einer unserer Jugendreferenten – hat mich an ein Wort von Sören Kierkegaard erinnert, das mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht: Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit.[1]Paradoxer kann man es ja gar nicht sagen, denn entweder man ist bedürftig, dann ist man eigentlich nicht vollkommen oder man ist vollkommen, dann aber ist man nicht mehr bedürftig. Doch beides zusammen ist scheinbar sinnwidrig. Einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, der Heidelberger Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer hat dieses Kierkegaard-Zitat gar einmal in einem Zeitungsinterview als sein Lebensmotto bezeichnet.[2] Das beeindruckt mich und gibt mir sehr zu denken. Ist es diese Haltung, in der ich mich mehr üben, wir uns bewusster einüben sollten, die Haltung der Gottesbedürftigkeit? Ist es das, was ich gerade zu lerne habe, wieder zu erlernen habe? Weg von dem so vieles bestimmenden Machbarkeitsdenken, hin zu dem Bekenntnis der Bedürftigkeit?

Sollte das nicht doch die Haltung sein, in der wir auch Kirche leiten, vor Ort, im Bezirk und darüber hinaus?

In einem Kirchenlied heißt es:

„Wenn wir von Tag zu Tagen, was da ist, überschlagen

und rechnen dann die Menge, so sind wir im Gedränge.

Doch wenn wir mit Vertrauen ihm auf die Hände schauen,

so nähret allerwegen uns ein geheimer Segen.“ (EG 667, 3-4)

Um nicht missverstanden zu werden, das ist in meinen Augen kein Widerspruch zum eigenen Denken und Planen, zum Haushalten und Vorausdenken. Wir können nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Wir sollen bebauen und bewahren, sollen Hand anlegen, aber bei all unserem Handwerk sollen wir wissen: das Gedeihen und Gelingen hängt ab von Gottes Segen. Das wird uns an Erntedank sehr augenscheinlich bewusst. Und deshalb war Erntedank gerade auch in diesem Jahr so wichtig.

In allem Beraten und Beschließen bleibt es bei unserer Bedürftigkeit. Wir haben es nicht in der Hand, aber auf Gottes Hand zu vertrauen, das bewirkt Zuversicht.

Liebe Synodalinnen und Synodale, nun mögen sie vielleicht den Eindruck gewonnen haben, dass mein Vortrag mehr eine Predigt als ein Bericht gewesen sei und damit mögen Sie recht haben. Es war für mich heute nicht der Moment, um über Einzelnes zu berichten, zu vielfältig, zu vielseitig, zu unklar in vielem auch stellt sich mir die aktuelle Lage dar. Zudem finden demnächst Beratungen auf verschiedenen Ebenen statt – ich nenne exemplarisch nur die sogenannten Haushaltsstrategiegespräche, mit denen wir auf Bezirksebene ein verstärktes Nachdenken darüber anregen wollen, wie wir uns haushalterisch auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einstellen können. Doch – und das sehe ich als ganz wesentlich an – bei diesen Beratungen braucht es auch eine bestimmte innere Haltung. Und darüber gewiss zu werden, das fordert uns alle heraus. Deshalb ist dieser Bericht zuerst auch an mich gerichtet. Wie jede Predigt, die ich schreibe, bin ich mir selbst der erste Hörer. Es soll mich dieser Gedanke von der Bedürftigkeit nach Gott begleiten, in der ich vorankomme. Dieses Gefühl möge mich und uns alle leiten, damit wir weiterkommen, hindurchkommen. Und abschließend noch einmal der Liederdichter:

„Wie dieses mag geschehen, das kann man nicht verstehen;

allein man sieht am Ende, es ging durch Gottes Hände.“ (EG 667, 5)

Vielen Dank für Zuhören und Mitdenken!


[1] Sören Kierkegaard, Erbauliche Reden 1844/45, Düsseldorf/Köln 1964, S. 5.

[2] Überliefert bei: Christian Möller, „Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“. Der Einzelne, die Gemeinschaft und das Publikum bei Sören Kierkegaard. Eine Abschiedsvorlesung zum Johannestag 2005, zugleich ein Beitrag zum 150. Todestag von Sören Kierkegaard, S. 13.

Quelle:  http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~d04/personalpages/moeller/Abschiedsvorlesung.pdf (Aufruf am 10.10.2020.)

Dekansbericht_2020

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen