Über Relevanz und Resonanz von Kirche (Teil 1)

„… und von der Kirche hört man gar nichts!“

Ja, wahrscheinlich ist es dieser Satz, der mich zu diesen Zeilen veranlasst. Doch, diese Wahrnehmung provoziert mich. So war und ist es doch nicht. Alles in mir sträubt sich gegen diese Sichtweise. Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten der Pandemie gab es in meinen Augen ein zuvor kaum für möglich gehaltenes kirchliches Engagement, und dies nicht nur im digitalen Format. Eine vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes unglaubliche Vielfalt an Ideen und Initiativen hat sich entwickelt, um, ja auch unter diesen Bedingungen des physischen Distanzierens, nah bei den Menschen zu sein.  Man glaubt es kaum, wenn man es nicht selbst unmittelbar wahrnehmen kann. In einer Runde der leitend Verantwortlichen aus den verschiedenen  Arbeitsbereichen unseres Kirchenbezirks wurde kollektiv berichtet, von der Kindergartenarbeit und Jugendarbeit, der Schul- und Hochschulseelsorge, der Altenheim- und Krankenhausseelsorge, der Familienarbeit und Erwachsenbildung, der Asylarbeit und Flüchtlingshilfe, der Diakonie vor Ort mit all ihren Angeboten der Beratung und Hilfe, vom Tafelladen bis zum Stadtteilcafe, vom ambulanten Pflegedienst bis zur psychologischen Beratungsstelle, nicht zu vergessen all die kirchlich-diakonischen Einrichtungen (die wir im Blick auf Kirche oft genug aus dem Blick verlieren, aber die doch Kirche sind: BruderhausDiakonie, Mariaberg, Samariterstiftung u.a.), erzählt wurde von der Citykirche, der Kirchenmusik, den ökumenischen Begegnung mit weltweiter Kirche u.a.m.. Am liebsten würde ich gerne alle, denen der obige Satz so leicht über die Lippen kommt, in eine solche Runde einladen und ich bin mir sicher, sie würden gar nicht alles aufnehmen können, was ihnen dort an kirchlichem Leben vorgestellt wird. Und in vielen dieser Arbeitsfelder sind die Hauptamtlichen gleichsam nur die Geschäftsführenden, wirklich „geschafft“ wird von unzähligen Ehrenamtlichen, auch und gerade in den Zeiten des Lockdowns. Nein, die Kirche war ganz gewiss nicht geschlossen. Sofort will ich also dagegenhalten und will gar mit Zahlen beeindrucken: 287% mehr Teilnehmende zum Beispiel bei gestreamten Gottesdiensten als bei analogen, 83% aller Kirchengemeinden haben in den zurückliegenden Wochen Erfahrungen mit digitalen Formaten gemacht – so eine EKD-Studie[1], die Mitte Juni vorgestellt wurde, übrigens über verschiedene Medien verbreitet, von den großen Nachrichtensendungen bis hin zu den Websites der Kirchen selber.[2] Wer will, der kann doch hören und sehen, der kann doch wahrnehmen und – ja auch das – der kann anerkennen.

An mir selber merke ich, wie ein solcher Satz vom Schweigen oder Schließen der Kirche mich kränkt und mir weh tut, wo ich doch von mir selber denke, dass die vergangenen Monate für mich die anstrengendsten meiner bisherigen kirchlichen Dienstzeit waren. Und ich kenne so viele, die dies für sich ganz ähnlich empfunden haben. Im O-Ton aus der oben beschriebenen Runde der die verschiedenen Arbeitsbereiche in unserem Kirchenbezirk vertretenden Leitenden: „Es war der Wahnsinn“, was da an Herausforderungen zu bewältigen war, zum Beispiel in der Organisation unserer kirchlichen Kindergärten mit extrem kurzfristigen Verordnungen, mit all der Ungewissheit über die Infektionsrisiken bei und mit Kindern, mit Ansprüchen und Erwartungen von Eltern und Politik, von den Mitarbeitenden selber, mit dem pädagogischen Gewissen, mit den finanziellen Fragen usw.

Der Satz, dass man von der Kirche nichts höre, hat gewiss einen anderen Erfahrungshintergrund. Er ist nicht der meine, aber es scheint der vieler zu sein. Denn zu aller Enttäuschung über diesen Satz werden am selben Tag, da ich ihn noch einmal in aller Schärfe höre, die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsstatistik[3] bundesweit kommuniziert: So viele Austritte wie 2019 gab es in Deutschland noch nie. Im Schnitt ein Viertel mehr Austritte als noch im Jahr zuvor. War die ohnehin schon düstere Prognose der Freiburger Studie im vergangenen Jahr noch von einer durchschnittlichen jährlichen Austrittsquote von 0,95% ausgegangen, so lag nun bereits im ersten Jahr des prognostizierten Zeitraums faktisch die Zahl bei knapp 1,3%.[4] Mit allen anderen Faktoren saldiert ergibt sich ein Rückgang in der Kirchenmitgliedschaftszahl um 1,8%.[5] Eine sarkastische Bemerkung zum „exponentiellen Wachstum“ nicht nur des uns alle beschäftigenden Virus sondern auch dieser Zahlen kann ich mir gerade noch verkneifen, soweit sind wir – Gott sei Dank – noch nicht. Von einem linearen Rückgang zu sprechen fällt mir allerdings auch immer schwerer.

„Irrelevante Kirche?“

Ist es dann doch soweit, wie es der Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung insinuiert, wenn er seinen Artikel mit „Irrelevante Kirche?“ überschreibt.[6] Ist das Fragezeichen nurmehr ein Zeichen der Höflichkeit? Zeitungen mit großen Buchstaben und noch größerer Auflage hätten vielleicht ein Ausrufezeichen verwendet. Ich weiß es nicht, aber denken kann ich es mir. Dort hätte dann vielleicht auch der O-Ton vom Schweigen der Kirche dankbare Aufnahme gefunden.

Wie sollen wir, wie soll ich denn jetzt mit diesen Wirklichkeiten und Wahrnehmungen umgehen? Die EKD will mit einer Studie ihres sozialwissenschaftlichen Instituts reagieren. Auch in der württembergischen Landeskirche soll mit empirischen Untersuchungen mehr Licht ins Dunkel der Austrittsgründe gebracht werden, lese ich in der Pressemitteilung, der ich aber dann noch entnehme, dass trotz aller ernüchternder Zahlen nach wie vor die württembergische Landeskirche immer noch die größte Kirche im Land Baden-Württemberg sei. Warum dieser Satz? Obwohl faktisch richtig, hilft er nicht weiter. Denn darum geht es doch gar nicht, wer nun im Verhältnis zu den anderen immer noch der Größte ist. Allen Kirchen geht es mehr oder weniger gleich. Wir leiden alle unter dieser schwindenden Mitgliederbindung.

Irrelevanz oder Systemrelevanz

Wie also weiter? Schlichter kann man wohl kaum fragen. Doch einfache Antworten wird es meines Erachtens nicht geben. Es wird nicht reichen, einfach die Gründe besser zu verstehen (obwohl mehr soziologische Wahrnehmung dringend Not tut), einfach mehr Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben (obwohl neue Kanäle und Formate ebenfalls dringend Not tun), einfach mehr dies oder einfach mehr das zu tun. Die Diversität der modernen Gesellschaften und die Diversifizierung auch der Erwartungen an Kirche im Kirchenvolk nimmt immer weiter zu. Darauf mit einfachen Rezepten antworten zu wollen, ist an sich schon eine logische Unmöglichkeit. Umso größer scheint mir die theo-logische Herausforderung.

Vielleicht sollten wir uns dieser spezifisch theologischen Herausforderung mehr denn je stellen und die Größe des Neu-heraus-gefordert-seins begreifen. Denn die gelebte Vielfalt kirchlichen Engagements stärkt die kirchliche Bindungskraft nicht in dem Maße, wie es nicht nur Kirche selbst, sondern die ganze Gesellschaft bräuchte. Früher oder später wird sich ja nicht nur Kirche verkleinern (aufgrund zurückgehender Finanzen), sondern eben auch Kirche mit ihren Angeboten für die ganze Gesellschaft, zum Beispiel in den Handlungsfeldern Diakonie, Bildung und Kultur. Damit steht viel mehr auf dem Spiel als nur die Zukunft einer Institution. Gefährdet werden soziale und kulturelle Standards in der öffentlichen Infrastruktur insgesamt, wenn es keine kirchlichen Träger mehr gäbe. Die Folgen für die Gesellschaft im Ganzen wären unabsehbar. So betrachtet kann meines Erachtens wirklich nicht von der Irrelevanz von Kirche, sondern muss von der Systemrelevanz von Kirche gesprochen werden.

Der Kern kirchlicher Systemrelevanz

Ich selbst erliege immer wieder der Versuchung, die Relevanz von Kirche mit genau den oben genannten Hinweisen bekräftigen zu wollen. Und merke dann aber doch auch, dass dies zwar für den Moment überzeugt und als Konsequenz die Notwendigkeit anerkannt wird, dass man mehr darüber reden müsse. Kirche hat sicherlich diesbezüglich erhebliche Optimierungspotentiale. Die mediale Kommunikation kirchlicher Arbeit hat sich gewiss weiter zu entwickeln, auch mit entsprechenden finanziellen Mitteln. Aber mir scheint, dass all dies nicht den Kern der Not trifft. Influencer in kirchlichen Mediendiensten, innovative Printformate, digitale Präsenz und vieles mehr sind gut und nötig, aber Antworten auf die Frage nach kirchlicher Systemrelevanz geben sie nicht.

Die uralte Unterscheidung von Form und Inhalt hilft da meines Erachtens weiter. Es muss uns in Kirche wieder mehr um den Inhalt gehen, sprich der Inhalt ist systemrelevant. Und also geht es um die Frage, was kann Kirche dazu beitragen, dass es dem Welt- und Selbstverständnis und mithin dem Gottesverständnis der Menschen dient. Was kann Kirche einbringen, dass die Menschen mit einer aus diesem Grundverständnis von Gott und der Welt heraus sich entwickelnden Weltanschauung besser leben als wenn sie dieses Fundament nicht hätten? Was heißt es, dass einen anderen Grund niemand legen kann als den, welcher gelegt ist, Jesus Christus? (1. Kor 3, 11)

Gerade die vergangenen Wochen und Monate haben ganz grundsätzliche Fragen des Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses bei ganz vielen Menschen hervorgebracht. Wo ist denn Gott in dieser Pandemie?  Hat er – so es ihn denn gibt – etwas damit zu tun? Und wenn ja, was? Was ist denn der Sinn unseres Lebens, wenn wir auf den bisherigen Wegen so ausgebremst werden? Müssen wir umkehren, wohin, wie stark und schnell? Und wie sieht es denn aus mit der Gerechtigkeit in dieser Welt? Warum verstärkt dieses Virus die Ungerechtigkeiten noch mehr?

Zur Systemrelevanz von Kirche gehört die Kommunikation dieser Fragen. Weil wir nur so die Grenzen des auch sonst in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik Gedachten und Gesagten überschreiten. Kirche muss von diesen im wahrsten Wortsinn transzendierenden Diskursen bewegt sein. „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein“, verspricht der die Grenzen dieser Erde überwindende Christus (Apg 1, 8). Zu diesem Versprechen gehört, dass wir in der Kommunikation der genannten Fragen Antworten finden werden. Wir kreisen nicht um uns selbst, sondern sind aufmerksam für das, was die Theologen das Verbum Externum („das äußere Wort“) nennen. Mit dem Satz „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte“ hat dies der biblische Psalmbeter ausgedrückt (Ps 119, 105). Dies als das entscheidende Angebot von Kirche zu kommunizieren, das scheint mir die eigentliche Herausforderung für Kirche zu sein. Wir bleiben nicht bei unseren eigenen Worten und Weisheiten, sondern hören auf Gottes Wort und wollen versuchen, dessen Systemrelevanz für unser Leben zu verstehen. Und also müssen wir uns in Kirche mehr denn je fragen: Wie können wir davon reden, dass das Wort Gottes Orientierung und Trost im Leben ist, dass das Wort Gottes wirksam ist, dass das Wort Gottes für uns da ist, besonders dann, wenn wir eigentlich sonst keine Worte mehr haben.

„Gehet hin und lehret“[7]

Kirche hat viel zu sagen und sagt auch zu Vielem etwas. Aber bei allem kirchlichem Reden muss es im Kern um die Rede von Gottes Wort gehen. Wenn Kirche sich in praktischer, öffentlicher Theologie übt, dann muss sie deutlich machen, von welcher biblischer Grundlage her sie spricht. Es braucht mehr denn je das Bemühen, kirchliche Rede vom Wort Gottes her zu begründen. Es braucht mehr denn je Theologie. Hierin liegt die eigentliche Systemrelevanz von Kirche!  


[1] Daniel Hörsch, Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise. Eine Ad-hoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche Deutschland, hrsg. von midi / Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., Berlin 2020. Digitaler Aufruf am 27.06.2020 um 14.30 Uhr unter: file:///C:/Corona/Aktuelles%20-%20Zwischenablage/EKD-Studie_Digitale_Verkuendigungsformate.pdf

[2] Beispielsweise auf der Homepage der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Aufruf am 27.06.2020, 14.30 Uhr unter: https://www.elk-wue.de/#layer=/news/2020/16062020-digitalisierungsschub-durch-corona-krise

[3] https://www.ekd.de/ekd-statistik-22114.htm (Aufruf am 27.06.2020, um 14 Uhr)

  

[4] Siehe such F.A.Z vom 27.06.2020: Artikel: „So viele Kirchenaustritte wie noch nie. Katholische und evangelische Kirche verlieren mehr als eine halbe Million Mitglieder.“

[5] https://www.elk-wue.de/#layer=/news/2020/26062020-mitgliederrueckgang-2019-bei-18-prozent (Aufruf am 27.06.2020, um 14 Uhr)

[6] F.A.Z vom 27.06.2020, Art. Irrelevante Kirche? Von Daniel Deckers.

[7] Aus Mt 28, 19.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen