Über Relevanz und Resonanz von Kirche (Teil 2)

„Siehe, ich bin bei euch“

Nach dem Evangelium des Matthäus hinterlässt der auferstandene Christus dies als letzte Worte.[1] Er spricht so zu seinen Jüngern angesichts dessen, dass er bald nicht mehr da sein wird. Er gibt deshalb dieses Versprechen: Auch wenn ihr mich bald nicht mehr wie gewohnt sehen und hören werdet, so bin ich doch bei euch. Es gibt „bis an der Welt Ende“ keinen Ort, an dem er nicht für uns anwesend ist. Die präsentische Formulierung des Versprechens will zudem vergewissern, er ist da, er wird nicht nur sporadisch oder eventuell da sein. Vielmehr sagt er in aller Klarheit: Ich bin bei euch!

Der in diesem Frühjahr erschienene neueste Gedichtband von Hans-Magnus Enzensberger trägt den Titel „Wirrwarr“ und darin findet sich ein mit „Eventuell“ überschriebenes Gedicht, das sich mit der Vergänglichkeit unserer Existenz beschäftigt und dessen erste Worte lauten: „Vorläufig bin ich noch da“.[2] Aus der Perspektive eines weithin gelebten Lebens reflektiert der Autor die Begrenztheit des Lebens und stellt in der vorletzten Strophe seines Gedichts die Frage: „Wer weiß, ob auf die Vergänglichkeit wirklich Verlaß ist. Nur der Tod, sagen die Sterblichen, sei definitiv.“

Demgegenüber beschreibt das Wort des Auferstandenen eine grundsätzlich andere Perspektive, nämlich die definitiver Gegenwärtigkeit Christi. Es gibt nicht nur keinen Ort auf dieser Welt, an dem Christus nicht gegenwärtig ist, sondern auch keine Zeit. Die Gegenwart Christi überwindet die Begrenzungen von Raum und Zeit. Es gibt etwas, was wirklich nicht vergeht. Sogar Himmel und Erde werden vergehen, aber sein Wort bleibt in Ewigkeit. Das inkarnierte Wort wird zu einem transzendierten Wort, transzendiert in bleibende Gegenwärtigkeit.

Kommunikation des Evangeliums als Grund aller kirchlichen Rede

Dieses Wort weiter und immer wieder zu sagen ist der Kirche aufgetragen. Das ist mit dem Hingehen und Lehren gemeint, zu dem Christus mit seinen letzten Worten aufruft. Aber was folgt denn nun konkret aus dieser Aufforderung zu reden, das Evangelium zu kommunizieren? Wie kann und wo soll Kirche sich Gehör verschaffen? 

Auch wenn der Kirche in den vergangenen Wochen und Monaten manches Mal vorgehalten wurde, man hätte von ihr nichts gehört, so waren es vor der Pandemie in den letzten Jahren vor allem gegenteilige Vorwürfe, dass nämlich Kirche sich zu allem und jedem äußere. Beinahe in regelmäßigen Abständen erhielt ich Briefe, die sich zwar auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Diskurse bezogen, die aber alle darin eine gewisse Einigkeit auszeichnete, dass in ihnen die Forderung nach einem Bleiben der Kirche bei ihrem Eigentlichen steht. Kirche solle sich doch nicht zu Themen äußern, von denen sie nichts verstünde. Sie solle sich um die Seelsorge kümmern, aber blos bitte nicht politisch positionieren. Am liebsten wäre es diesen Kritikern wohl, dass sich Kirche bei großen Herausforderungen unserer Zeit wie dem Klimawandel oder auch der Migrationsproblematik zurückhält oder allenfalls mit allgemeinen Aussagen aufhält. Wenn die evangelische Kirche sich in der Seenotrettung engagiert, dann wird dies jedoch als provokante politische Parteinahme wahrgenommen und nicht als eine aus dem christlichen Menschenbild heraus sich ergebende Selbstverständlichkeit, dass man nämlich niemand ertrinken lässt, wenn es irgendwie zu vermeiden ist. Den „Punkt“, den die Kirchentagspredigerin hinter diese Selbstverständlichkeit setzte,[3] verärgerte diese Kritiker, weil sie dies nicht verstehen wollen und sich wohl auch selbst nicht verstanden fühlten.

Verstehen bedeutet Übersetzen (Paul Ricoeur[4])

Die unterschiedlichen Positionen, ob und wie Kirche sich zu politischen Fragen, zu Themen des Lebens und der Welt allgemein äußern solle, erlebe ich oft wie die zwei Ufer diesseits und jenseits eines breiten Stroms von gesellschaftlichen Diskursen. Und oft genug ist keine kommunikative Brücke in Aussicht. Wie also sollte man von der einen auf die andere Seite über-setzen, um miteinander ins Gespräch kommen zu können, um eine gewisse Form der Verständigung erzielen zu können. Auch der Vorwurf, dass man von Kirche nichts gehört habe in den vergangenen Wochen und Monaten mutet mir so an, als sei er von der anderen Seite des Flusses formuliert. Zwischen meiner Wahrnehmung und der Position des Gegenübers liegt ein kaum zu überwindender Strom von Vorurteilen und Vorerfahrungen, die sich im Fluss der Zeit und in den jeweiligen Augen des Betrachters nun scheinbar voll bestätigen. Und dieser unaufhörlich fließende Strom kann mitunter so reißend werden, dass er noch sehr viel mehr mit sich reißt, als was aktuell zur Diskussion steht. Die Gefahr, dass das Ufer unterspült wird und erodiert, wird zunehmend größer. Die große Frage also ist die, wie können wir über-setzen vom einen zum anderen Ufer, und ja gerade auch im übertragenen Sinn. Wie können wir einander verständlich machen?

Zunächst einmal meine ich, dass wir – um noch im Bild des Flusses mit den Ufern zu bleiben – dass wir Klarheit darüber gewinnen müssen, wo öffentliche Theologie und kirchliche Rede ihren Ort hat. Und gewiss wird darin Einigkeit herrschen, dass dies nicht im Fluss selbst sein kann. Öffentliche Theologie und kirchliche Rede sind da verloren, wo sie mehr oder weniger zufällig einfach mitschwimmen im Fluss der gesellschaftlichen und politischen Diskussion. Vielmehr müssen sie sich des eigenen Ufers bewusst sein. Sie müssen wissen, wo sie ihren Grund haben. Die Besinnung auf die Begründung im Evangelium ist die Ermöglichung, sich in den Strom der Auseinandersetzungen zu begeben. Theologie und Kirche müssen deshalb nicht nur sich selbst darüber Rechenschaft abgeben, aus welcher Grundposition sie sich äußern, sondern sie müssen vor allem und absolut unverzichtbar deutlich machen, von wo her sie kommen. Wenn Theologie und Kirche sich zu ethischen oder politischen Fragen äußern, dann müssen sie den Bezug zur biblischen Begründung immer klar und verständlich kommunizieren. Selbst in den auf 1’30“ limitierten Medienstatements muss deutlich werden, dass eine kirchliche Äußerung von einem evangeliumsbasierten Standpunkt herkommt und nicht etwa aus einem politischen Individualinteresse.

Die wesentliche Aufgabe öffentlicher Theologie und kirchlicher Rede ist die des Übersetzens. Übersetzen heißt, das Evangelium kommunizieren und applizieren, heißt, die sich aus dem Evangelium heraus entwickelnde Äußerung im Gespräch als genau darin begründet auszuweisen.

Diese Aufgabe ist nicht einfach, insofern am anderen Ufer meistens nicht nur eine Position zu finden ist, sondern viele. Vielleicht gibt es noch nicht einmal nur ein gegenüberliegendes Ufer, sondern ähnlich einer Lagune viele Ufer, weil der Fluss selbst sich verzweigt. Das Übersetzen wird demnach immer komplexer. Doch angesichts der Komplexität den Versuch des Übersetzens erst gar nicht zu wagen, würde bedeuten, darauf zu verzichten, sich aufeinander zuzubewegen. Das Verharren auf dem eigenen Standpunkt würde zur völligen Lähmung führen. Ohne die Bereitschaft zur Übersetzung bliebe am Ende nur die eigene Sprachlosigkeit. Der große Übersetzer Franz Rosenzweig meinte einmal: Alles Sprechen ist Übersetzen.[5] Wenn wir also aufhören würden, uns ums Übersetzen zu kümmern, dann würden wir Sprachfähigkeit verlieren und damit die Fähigkeit zur Verständigung untereinander, mithin auch die Möglichkeit zum Verstehen des Evangeliums. Theologie und Kirche haben zu sprechen, genauer: sie haben zu übersetzen, um das Evangelium zur Sprache zu bringen.

Wenn Menschen aus der Kirche austreten, treten sie meistens auch aus dem Gespräch mit Kirche und Theologie aus. Bei kaum einem Kirchenaustritt wird nicht automatisch mit der Bestätigung des Austritts auch noch einmal eine Einladung zum Gespräch versandt. Allein, meine persönliche Erfahrung war bislang die, dass nicht eine einzige Person noch einmal auf ein solches Gesprächsangebot reagiert hat. Der Gesprächsfaden war wohl schon längst vor dem Kirchenaustritt gerissen, wenn überhaupt er je da war.

Ich lerne daraus, Kirche muss immer wieder und immer wieder neu zum Gespräch einladen. Kirchen sind Gesprächsagenturen, weil nur durch das Gespräch Verständigung gelingen kann.


[1] Mt 28, 18-20.

[2] Hans-Magnus Enzensberger, Wirrwarr – Gedichte, 2020, S. 12f.

[3] Pfarrerin Sandra Bils in ihrer Predigt im Schlussgottesdienst des Dortmunder Kirchentags am 22. Juni 219: „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“

[4] Paul Ricoeur, Vom Übersetzen. Herausforderung und Glück des Übersetzens. Berlin 2016, S. 42.

[5] Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: Luther, Rosenzweig und die Schrift. Ein deutsch-jüdischer Dialog, hrsg. Von Micha Brumlik, mit einem Geleitwort von Margot Käßmann, Leipzig 2017, S. 15.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen