Über Relevanz und Resonanz von Kirche (Teil 3)

Das Sprechen sucht das Verstehen

Das bisher verwendete Bild vom Über-setzen kommt an seine Grenzen, wenn auf der anderen Seite des Ufers gar niemand mehr wartet. Nach meiner Überzeugung ist es jedoch so, dass zwar Menschen vielleicht nicht mehr an jenen Orten und Situationen auf kommunikative Reflexion über den Sinn des Lebens warten, an denen Kirche sie vielleicht sucht, aber dass durchaus viele Menschen nach wie vor die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Orientierung in der Weltanschauung beschäftigt. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass die Aufgabe des Übersetzens zunächst damit beginnt, sich gesprächsbereit zu zeigen und also auch insbesondere hörbereit. Die Verstehen suchende Kommunikation des Evangeliums erfordert die hörende Achtsamkeit auf das Individuum. In Anlehnung an eine Formulierung des Gottesknechts aus Jesaja 50 wird es also darauf ankommen, mit den Müden recht reden zu können und dafür ein offenes Ohr zu haben.[1] Der Modus des Hin- und Zuhörens scheint mir demnach für Kirche von ganz wesentlicher Bedeutung zu sein. Das Übersetzen allein ist nicht hinreichend für das Ziel einer Verständigung zugunsten von Interesse an kirchlicher Kommunikation und Leben, sondern es bedarf mindestens so sehr des wirklichen Hörens.

Im Grunde ergibt sich dieser Gedanke ja auch aus der Reflexion des Übersetzens selbst. Denn nur wenn ich mein Gegenüber kenne, weiß ich doch auch, wie ich ihm etwas sagen kann. Und um mein Gegenüber kennen zu können, muss ich ihm zuhören, muss ich ihn zu verstehen suchen. Das übersetzende Sprechen ist demnach erst dann hinreichend, wenn es auf dem hörenden Verstehen gründet.

Wahrheitsbesitz oder Wahrheitssuche

Kirche wird leider zu oft entweder als nicht oder als zu präsent wahrgenommen. Entweder hört man von der Kirche nichts oder man hört Kirche zu allem Möglichen und Unmöglichen etwas sagen, so die immer wiederkehrende Wahrnehmung. Die damit kritisierte Alternative bezieht sich also auf den Modus des Sprechens, der entweder aktiviert ist oder auf Standby gestellt zu sein scheint. Doch dazwischen gibt es viele Zwischenstufen, die jedoch ohne den Modus des Hörens nicht eingestellt werden können.

Wo Menschen Kirche als hörend erleben, da begegnet ihnen Kirche nicht als Wahrheitsbesitzerin. Sie hat die Wahrheit nicht, sondern sie lädt ein, sich gemeinsam auf Suche nach Wahrheit zu machen und sie gemeinsam zu formulieren, z.B. als eine der angedeuteten Zwischenstufen. Kirche vertritt keine allgemeinen Wahrheiten, sondern tritt für das beständige Bemühen um Wahrheit ein. Wahrheitssuche ist ein kommunikatives Geschehen. Im Gespräch zeigt sich, was als wahr anerkannt werden kann. Und wenn sich dabei keine Verständigung erreichen lässt, dann bleibt es beim Gegensatz von individuell-beanspruchter Wahrheit und allgemein-unterstellter Unwahrheit. Für die konkrete Frage nach Relevanz und Resonanz von kirchlicher Kommunikation in unseren Tagen scheint mir dies eine fundamentale Einsicht zu sein, dass es Kirche nicht allein um die Vermittlung kirchlicher Wahrheiten gehen darf, sondern dass sie sich auf das offene Feld der multilateralen Wahrheitssuche begeben muss. Dabei wird es, um noch einmal aus Enzensbergers Gedicht „Eventuell“ zu zitieren, oft so sein: 

Nirgends ein Heureka. Nur ab und zu

winzige Offenbarungen, millimetertief.[2]

Es wird kein archimedisches Prinzip im Sinne des „Ich hab’s gefunden“ im Diskurs um Wahrheit geben, sondern je und je subjektive und situative „Offenbarung“. Ein großes Wort, das der Dichter schnell relativiert, nur „millimetertief“. Immerhin, es bleibt nicht bei einem „Wirrwarr“. Es klärt sich etwas, nämlich dann, wenn etwas tiefer verstanden ist und sei es eben nur millimetertief. Wohlgemerkt, ein Ich-hab’s-verstanden wird es auf der Suche nach der letzten Wahrheit wohl kaum geben, nein das Ich allein reicht nicht zum Verstehen von Wahrheit. Wahrheit erweist sich als wahr erst im sich verständigenden Gespräch, und für Theologie und Kirche sei dieser Gedanke gar noch bis hin zum Gespräch mit jenem angedeutet, der durch sein Wort alles erschafft. Wahrheitssuche braucht das Gebet.

Räume und Anlässe für diese kommunikativen Arten von Wahrheitssuche (an) zu bieten, für Gespräche mit Menschen und mit Gott, ist eine dringende Aufgabe für die Kirche. Vielleicht geht es dabei gar nicht in erster Linie um konzeptionelle Angebote, als vielmehr um diese Haltung der Gesprächsoffenheit und Einladung zur Wahrheitssuche, die Kirche in allen ihren Lebensäußerungen zeigen sollte.

Einladung zum Gespräch

Wo wir einander in dieser Haltung begegnen, sind Besserwisserei und Rechthaberei ausgeschlossen, auch und gerade in Zeiten allgemeiner Ungewissheit. Deshalb komme ich am Ende meiner durch den Satz von der schweigenden Kirche ausgelösten Gedankengänge zu dem Schluss, dass es mir um die Wahrheit dieses Satzes eigentlich gar nicht gehen sollte, sondern ich mich um das Verstehen dieses Satzes kümmern muss. Was motiviert den Sprecher dieses Satzes und wie können wir darüber ins Gespräch kommen. Denn die Frage nach der Relevanz und Resonanz von Kirche hängt doch weit mehr als von meinen Begründungen davon ab, ob es eine sich im Gespräch entwickelte, gemeinsame Verständigung geben kann. Von der Qualität dieser dann intersubjektiv erkannten Basis hängt es nicht zuletzt ab, wie beständig oder brüchig Kirchenbindung ist.


[1] Siehe Jes 50, 4f.

[2] Hans-Magnus Enzensberger, Wirrwarr – Gedichte, 2020, S. 12.

Dekan im Kirchenbezirk Reutlingen