Überlegungen zu einer theologisch angemessenen Rede vom Wachstum (in) der Kirche:
These 6 der Barmer theologischen Erklärung (1934):
Jesus Christus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Matthäus 28,20)
Gottes Wort ist nicht gebunden. (2. Timotheus 2,9)
„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“ (EG S. 1509)
Thesenreihe zu einer theologisch verantworteten Rede vom Wachstum in der Kirche:
1. „Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand“ (EG 508,1) und insofern die Kirche vom Himmel zu reden hat, muss sie auch von Wachstum reden.
2. „Die Grenzen des Wachstums“ außer Acht zu lassen, ist unmenschlich, weil alles Leben auf Erden begrenzt ist.
3. „Alles hat seine Zeit“ (Pred 3,1) – das Pflanzen und das Ausreißen, was gepflanzt ist – und deshalb ist auch alles Wachsen eingebunden in den Kreislauf von Werden und Vergehen. Die Kirche redet dann verantwortlich vom Wachsen, wenn sie auch vom Welken spricht und beides als Zeichen des Lebens versteht.
4. Die Kirche bleibt zuversichtlich und glaubwürdig, wenn sie keine Angst vor Brachen hat. Nach einer Zeit des Säens und Früchte Sammelns „sollst du es ruhen und brach liegen lassen.“ (Ex 23, 11)
5. Das Leben der Kirche wird in der Alternative „Wachsen versus Schrumpfen“ nie sachgemäß beschrieben werden können. Es gibt synchrone Prozesse des Wachsen und Schrumpfens, die nur bedingt allgemein erkennbar und erklärbar sind.
6. Die Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Wachstum ist heuristisch nur bedingt förderlich. Sie läuft Gefahr, an einer wesentlichen Grundeinsicht theologischer Anthropologie vorbeizugehen: Wir sind „simul iustus et peccator“. Es gibt weder im vermeintlich äußeren noch im inneren Sinn unbegrenztes Wachstum. Nicht zuletzt steht an dieser Stelle die theologische Frage nach dem Verhältnis von Heiligung und Rechtfertigung auf dem Spiel.
7. Ein christliches Verständnis von Wachstum kann letztlich weder im quantitativen noch im qualitativen Sinn auf analytischen Statistiken oder Prognose gründen. Christliche, zumal kirchliche Rede „rechnet“ mit mehr als man glaubt, erst recht mit mehr als man sieht.
8. Besonders in Zeiten komplexer soziologischer Transformationsprozesse ist der Kirche weder durch Schönreden noch durch Schlechtreden von Mitgliedschaftsperspektiven geholfen.
9. Eine einladende Kirche beklagt nicht ihr Kleinerwerden, sondern nimmt nüchtern dieses Faktum zur Kenntnis. Sie scheut weder die Rede vom faktischen Rückbau noch spricht sie unreflektiert vom Gemeindeaufbau.
10. Eine zugleich kernaufgaben- und gemeinwesenorientierte Kirche weiß, dass sie hier wie dort Wachstum nicht machen kann (auch nicht mit noch so elaborierten Gemeindeentwicklungskonzepten), sondern dass alles Gedeihen sich zuerst und zuletzt der Gnade und dem Segen Gottes verdankt. Aus diesem Bewusstsein resultiert eine spezifische Freiheit, nämlich nichts zu müssen, aber viel zu dürfen und zu können.
11. Es entspricht dem Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, dass sie auf ihre Balance zwischen Gelassenheit und Engagement achtet.
12. Eine engagierte Kirche versucht Aktionismus und Perfektionismus zu vermeiden. Die Saat des Wortes Gottes wächst langsam und nicht nach unseren Wachstumsvorstellungen bzw. -normen.
13. Eine einladend-engagierte Kirche setzt auf Pluralität. Es gibt nicht die eine Wahrheit, das eine Rezept, die eine Strategie.
14. Eine selbstbewusste Kirche hadert nicht mit ihrem Schicksal des gesellschaftlichen Relevanzverlustes, sondern hält unverdrossen, zuversichtlich und froh an ihrem Auftrag fest, „an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“
Dekan Marcus Keinath
Reutlingen, 01.03.2018
Zur theologischen Frage nach Wachstum:
I.
Es war unlängst bei der Gemeindeversammlung in Eningen. Zur Diskussion stand der Vorschlag, das Johannesgemeindehaus zunächst einmal für die nächsten drei Jahre an die katholische Kirchengemeinde zu vermieten, die aus einer baulich bedingten Notsituation heraus schnell alternative Räumlichkeiten für ihren Kindergarten sucht. Mit dieser Vermietung verbunden ist der Verzicht auf das Johannesgemeindehaus als Gottesdienstort, als Ort des Gemeindelebens. Ab Mai wird es nun in Eningen an normalen Sonntagen nur noch einen Gottesdienst geben. Freilich wurden auch in dieser Gemeindeversammlung verschiedene Bedenken formuliert, von mehr oder weniger nachvollziehbarer Argumentationskraft. Doch ein Votum provozierte einen ausgesprochen deutlichen Applaus. „Ja“ – meinte der Redner sinngemäß – „ja, er könne der Vermietung – sogar einem späteren Verkauf – zustimmen, wenn nur das damit erlöste Geld in Personal investiert werden würde. Menschen statt Steine, denn die Kirche dürfe sich ja nicht einfach so damit abfinden, dass sie immer kleiner werde, dass die Zahl der Gemeindeglieder immer weiter abnehme. Das dürfe doch nicht sein. Man solle jetzt doch umso mehr überlegen, wie man wieder mehr Menschen für die Kirche gewinnen könne, wie man die Bindungen zur Kirche stärken könne, usw.“ – Solche Meinungen begegneten mir im vergangenen Jahr viele. In nahezu jeder Pfarrplandiskussion wurde dieser Punkt erreicht, an dem danach gefragt wurde, was wir denn dafür unternehmen würden, dass die Kirche wieder wächst.
Die Kirche ist in den vergangenen Jahrzehnten in vielem gewachsen, an Gebäuden, ja, aber auch an Menschen, die sich ehrenamtlich und hauptamtlich engagieren. Vermutlich gab es noch nie so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bezahlte und unbezahlte. Noch nie hatten wir so viel Geld, noch nie gab es eine derartige Diversifikation professioneller Angebote im Dienst der Kirche, noch nie eine derartige Differenzierung gemeindlicher und gottesdienstlicher Aktivitäten. Ich spitze zu und behaupte: Noch nie wurde so viel geschafft. Doch – und so wurde vor einiger Zeit im Deutschen Pfarrerblatt ein Kollege zitiert – „wir machen immer mehr und es bringt immer weniger“ (Deutsches Pfarrblatt 1/2018, S. 17). Ein statistischer Blick belegt diesen Eindruck mindestens in quantitativer Hinsicht: Die Gemeindegliederzahlen gehen seit Jahrzehnten zurück und ganz besonders in den letzten Jahren. In unserem Kirchenbezirk allein im vergangenen Jahr um über 1307 Gemeindeglieder, was einem Rückgang von 1,48 % entspricht.
Kann man da angesichts dieser scheinbar unaufhörlichen Entwicklung noch von Wachstum reden? Haben wir nicht schon genügend Realitätschecks für die berühmte Formel aus dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ absolviert? Wurde nicht das Ziel einer Umkehrung des Verhältnisses von Austritts- und Aufnahmezahlen, das Mc Kinsey Mitte der 2000er Jahre in einem Zeitraum von 10 Jahren für das Evangelische Dekanat München ausgegeben hatte, wurde dieses Ziel nicht vollkommen verfehlt, in München und überall?
Warum sprechen wir immer noch von Wachstum, wo wir doch das Kleinerwerden von Kirche realisieren müssen. Im Jahr 1960 waren 73 % der Reutlinger Einwohnerschaft evangelisch, also knapp Dreiviertel, heute sind es noch 31 %, nicht einmal mehr ein Drittel. Was hilft‘s, drum herum zu reden. Wir haben Gebäude abgegeben und werden keine zusätzlichen mehr bauen. Unsere Aufgabe ist – ganz nüchtern und im Blick auf das Offenkundige gesprochen – der Rückbau.
Und doch lebt die Metapher vom Wachstum, feiert sie fröhliche Urständ sogar im Titel des aktuellen Pfarrplans „ZusammenWachsen“ . Das großgeschriebene „W“ provoziert mich, weil ich nicht gleich nur vom qualitativen Wachstum sprechen will, weil ich mich nicht wirklich freimachen kann von Zahlen. Und also denke ich seit einiger Zeit verstärkt übers Wachsen nach.
II.
Auf dem Altar der Marienkirche steht ein Kreuz, an dem Blätter und Blüten wachsen. Anders als das Holz auf der Kreuzigungsszene in der Sakristei, das abgesägte Äste zeigt. In diesem Wandbild aus dem späten 13. Jahrhundert sehen wir den toten Jesus am toten Holz des Kreuzes. Im Altarkreuz erkennen wir die beiden Auferstehungsengel, die uns die Frage stellen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ (Lk 24, 5) Die Gestaltung des Altarkreuzes mit dem aufblühenden Leben von Pflanzen ist wie ein sinnbildlicher Beleg für den Lebenden und dessen Sieg über den Tod. Aus dem Zeichen des Todes wird ein Zeichen des Lebens. Aus dem Vergehen wächst neues Leben.
„wachsen bezeichnet zunächst ein zunehmen, gröszerwerden, das die folge organischer entwicklung ist und wird von pflanzen, in beschränkter weise auch von mineralien, von thieren und menschen gebraucht. diese bedeutung ist die ursprünglichste und auch jetzt noch bei vollem leben.“
So lese ich es im Grimm’schen Wörterbuch. Ja, das ist sicherlich die allererste Assoziation beim Nachdenken über das Wachsen, dass da sich etwas verändert, etwas größer wird und dass es sich dabei um etwas handelt, was sich organisch entwickelt. Heranwachsende Kinder freuen sich, wenn die Feststellung der Großeltern – Ja, ihr seid aber wieder gewachsen – gleichsam als Kompliment begegnet. Sie werden größer und fühlen sich immer größer. Jetzt im Frühjahr beginnen die Gartenpflanzen wieder zu wachsen. Doch alles menschliche wie pflanzliche Leben ist eingebunden in einen Kreislauf von Werden und Vergehen. Das Wachstum hat seine Grenzen. Die Bäume wachsen nirgendwo hier auf Erden in den Himmel. Das geht schon denk-logisch nicht. Wir sind hier gebunden an Raum und Zeit, und also nicht ungebunden und grenzenlos. Demnach hat auch alles Wachsen seine Zeit. Es sei denn, es geht um mehr als nur um das Offenkundige.
Am Kreuz auf Golgatha stirbt Jesus und doch ist dieses Erinnerungszeichen weit mehr als nur ein Zeichen des Todes, anders als das Symbol, das wir vor ein Sterbedatum setzen. Mit den Augen des Glaubens erkennen wir darin mehr. So gesehen setzen wir uns über die Grenzen des Beweisbaren und Messbaren hinweg. Wir transzendieren die offensichtlichen Grenzen von Raum und Zeit, rechnen mit einem Jenseits unserer hiesigen Erfahrung.
Ich muss an den Isenheimer Altar denken, an den Fingerzeig Johannes des Täufers, über den der Maler Matthias Grünewald in lateinischer Sprache ein Bibelwort aus dem Johannesevangelium geschrieben hat: „Illum oportet crescere me autem minuit“ – Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen. (Joh 3, 30)
Johannes der Täufer stand der biblischen Überlieferung nach nicht unterm Kreuz und Grünewald wusste das natürlich auch. Dennoch lässt er den Täufer auf den Gekreuzigten weisen. Denn er weiß, dass an diesem irdischen Zeichen sich gewissermaßen sub contrario das Ewige Leben entscheidet. „Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, ist über allen“, überliefert der Evangelist den Täufer im Anschluss und der Maler will ebenfalls, dass wir mit unserer Glaubensüberzeugung im Anblick des irdisch Sterbenden wirklich den erkennen, der von oben kommt, und über allen ist. Dieser Christus, der Sohn Gottes, hat eine Mission zu erfüllen, die jede uns mögliche Vision von Werden und Vergehen, von Wachsen und Schrumpfen übertrifft. Er geht uns voran, um uns Leben in ewiger Ruhe zu bereiten. Er hilft unsere Vorstellungen und Maßstäbe überwinden. Der Täufer weiß darum aus der Schrift. Darin sollen wir uns kundig machen.
Und was lese ich in der Schrift zum Thema des Wachsens?
Ich werde zunächst in Psalm 92 fündig:
13 Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum,
er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.
14 Die gepflanzt sind im Hause des HERRN,
werden in den Vorhöfen unsres Gottes grünen.
15 Und wenn sie auch alt werden,
werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein,
16 dass sie verkündigen, dass der HERR gerecht ist;
er ist mein Fels und kein Unrecht ist an ihm.
Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen grünen – welch eine Verheißung! Auch wenn sie alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein. Als Visitator habe ich ein großes Privileg, ich darf als ein von außen Kommender doch jeweils einen recht umfassenden Einblick in eine Gemeinde gewinnen und dabei eben genau die Erfahrung machen, dass die Verheißung des Psalmisten weithin und vielfach Wirklichkeit ist. Freilich fehlt es den in den Gemeinden grünenden und blühenden Engagierten oft selber an dieser Wahrnehmung. Ihr Blick ist allzu oft defizitorientiert, auf das gerichtet, was nicht mehr oder schlecht läuft. Sie sehen manchmal deutlicher das Verwelken als das Blühen.
Im Locus classicus unter den Bibelstellen, die das Wachsen im Blick haben, – dem Gleichnis vom Wachsen der Saat in Markus 4 – heißt es: „… und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.“ (Mk 4, 27) Vielleicht liegt unsere mangelnde Wahrnehmung für das Wachsen auch daran, dass es vielfach ohne unser Zutun und im Verborgenen geschieht. Es verdankt sich vielleicht viel weniger ausgefeilten Projektskizzen oder Gemeindekonzeptionen als wir dies uns wünschten. Vielleicht wissen wir tatsächlich oft nicht so recht, weshalb etwas gut wächst und gedeiht und weshalb ein anderes Vorhaben, in das wir so viel Mühe und Energie investiert haben, so gar nicht werden will. Im Gleichnis heißt es anschließend ebenso schlicht wie herausfordernd: „Von selbst bringt die Erde Frucht zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.“ Sollten wir also vielleicht einfach mehr auf die selbstwachsende Saat vertrauen, sprich den Boden bereiten und dann wachsen lassen, was wachsen will? Der Evangelist Lukas trägt mit der Überlieferung des Gleichnis vom Senfkorn noch einen Aspekt hinzu, indem er auf die Dimension solchen Wachstums hinweist. Es kann zuweilen ungeahnte Größe gewinnen. In Lk 13 lehrt uns Jesus:
„Wem gleicht das Reich Gottes, und womit soll ich’s vergleichen? Es gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und warf’s in seinen Garten; und es wuchs und wurde ein Baum“ (Lk 13, 18-19).
So kann auch das Wort Gottes wachsen und sich ausbreiten, wie uns die Apostelgeschichte ausdrücklich bezeugt (Apg 12, 24) und so kann auch die Gemeinschaft derer, die sich an das Wort Gottes halten bzw. die – noch genauer – die sich an Christus, das inkarnierte Wort Gottes, halten wachsen. Im Epheserbrief begegnet uns sowohl das Bild vom Tempel, da Christus der Eckstein ist und in den wir eingefügt sind (Eph 2, 19-22), als auch das Bild vom Leib, dessen Haupt Christus ist und wir dessen Glieder (Eph 4, 15-16). Ob nun der heilige Tempel des Herrn oder der Leib Christi, beide sind auf Wachstum angelegt, doch jedes Gebäude und jeder organische Körper hat einmal seine Wachstumsgrenze erreicht. Darüber findet sich im Epheserbrief keine weitere Reflexion. Der Bau der Marienkirche war im August 1343 mit dem Anbringen des Turmengels abgeschlossen und selbst der gegenwärtig immer noch größte Kirchturm der Welt, der Ulmer Münsterturm, ist nach jahrhundertelanger Bauzeit einmal abgeschlossen. Doch dort wie hier muss seitdem die Gebäudeunterhaltung recht aufwändig und kontinuierlich betrieben werden. Selbst das steinerne Material muss immer wieder erneuert werden. „Ecclesia semper restauranda“. Und dabei achten die Bauhütten sehr auf gutes Material. Es geht um die Qualität. Vielleicht stand die Marienkirche bezüglich der materialen und architektonischen Qualität noch nie so gut da wie heute. Und auch die Aufenthaltsqualität war wohl kaum je höher als heute, schließlich kann man sich ohne in ihr zu frieren ganz auf die liturgischen oder konzertanten Angebote konzentrieren. Das war noch im 19. Jahrhundert ganz anders, als Dekan Gustav Adolf Stirm 1889 meinte feststellen zu können:
„Die Gründe der Unkirchlichkeit mögen hier im allgemeinen dieselben sein wie in anderen größeren Städten. Für Reutlingen speziell kommen aber noch 2 Momente in Betracht: 1. Die empfindliche Kälte, die während des Winters in der Hauptkirche herrscht und viele vom Besuch derselben abhält und 2. Der Umstand, daß ein bedeutender Teil der Kirchenstühle bis jetzt noch im Privatbesitz alter Reutlinger Familien sich befindet und von andern nicht benutzt werden darf.“
Heute müssen wir andere Gründe der Unkirchlichkeit zu suchen. Aber dazu nachher noch ein paar Anmerkungen.
Schon mit den gerade angestellten Überlegungen zum Bau der Marienkirche haben wir den gedanklichen Spurwechsel, sozusagen vom quantitativen Wachstum zum qualitativen vollzogen. Sichtbare Größe hat eine Grenze, 77 Meter Turmhöhe beispielsweise. Im Kolosserbrief sind wir zu einem Wachstum in der Erkenntnis Gottes berufen, im 2. Thessalonicherbrief soll unser Glaube wachsen und auch unsere gegenseitige Liebe, und schließlich betont der 2. Petrusbrief: „Wachset aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus.“ Erkenntnis, Glaube, Liebe, Gnade sind also qualitative Wachstumsparameter. Um deren Gedeihen sollte es uns in erster Linie gehen. Doch wie?
III.
Grundsätzlich gilt meines Erachtens: Wir schaffen es nicht aus uns heraus! Wir können kein Wachstum selber generieren! Wir können jedoch dafür sorgen, dass die Wachstumsbedingungen förderlich sind und darum, aber eben nur darum muss es uns gehen. Wir sollten nicht meinen, es läge am Ende doch an uns. Der Epheserbrief sagt unmissverständlich, ermahnend und ermutigend zugleich: „Von ihm [Christus] aus gestaltet der ganze Leib sein Wachstum“ (Eph 4, 16), von keinem Maßnahmenkatalog, keinem Strategiepapier, keinem Gemeindeentwicklungskonzept, sondern von Christus aus.
Auch wenn der zeitgeschichtliche Hintergrund für die Abfassung der Erklärung von Barmen ein ganz anderer war als es der heutige ist, die sechs Thesen mit ihrem so starken Christusbezug sind bleibend aktuell. In der sechsten These lese ich:
„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelche eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“ (EG S. 1509)
Ich nehme den mahnenden Grundton auch für unser heutiges Tun und Lassen wahr. Diese kritische Einstellung schwingt mit bei unserem Konzipieren und Gestalten. Ist es – und das ist denn die entscheidende Frage – ist es im Dienst Christi, was wir machen, dient es jener Kirche der Freiheit, die an Christi Statt die „Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten [hat] an alles Volk“?
„An alles Volk“ – dieses Volk, unsere Gesellschaft verändert sich. Der Anteil derer, die sich von der Botschaft von der freien Gnade Gottes ansprechen und berühren lassen, nimmt ab. Meines Erachtens überwiegend nicht als Folge von dezidierten Entscheidungsprozessen gegen Kirche und ihren Auftrag, sondern auf Grund einer Vielzahl von sehr individuellen Motivlagen. Monokausale Begründungsmuster für den Rückgang der Kirchenmitgliedschaftszahlen werden weder den komplexen soziologischen Transformationsprozessen noch den individuell diversifizierten Lebensentwürfen gerecht. Für besonders bedenkenswert halte ich jedoch drei Entwicklungen, erstens den Abbau von Selbstverständlichkeiten im Blick auf Grundentscheidungen zur Gestaltung eines gelingenden Lebensentwurfs, zweitens die damit verbundene Individualisierung und drittens die Intensivierung digitaler Kommunikation.
Es versteht sich heutzutage nicht mehr von selber, dass „man“ seine Kinder taufen lässt, dass „man“ eine Kirchenmitgliedschaft gleichsam schicksalhaft aufrechterhält. Es wird viel mehr danach gefragt: Was habe ich davon? Für das höchstsubjektive Design eines Lebensentwurfs wird nach dem jeweiligen „Benefit“ eines Engagements gefragt. Der persönliche Nutzen muss stimmen. Wenn schon für die möglichst effiziente Gestaltung eines normalen Wochenendes mit all den dazu notwendigen, immer wieder neu zu verhandelnden Arrangements so viel Zeit und Energie aufgebracht werden muss, um wie viel mehr gilt dies für die Grundlinien eines Lebensentwurfs. Kaum mehr etwas versteht sich von selber.
In der Folge dieser ständigen Suche nach einer Optimierung des Hier und Jetzt, nach dem persönlichen Benefit, ergeben sich sehr individuelle Entscheidungsprozesse. So vielfältig beispielsweise die Erziehungsstile von Eltern sich entwickeln, mindestens so vielfältig gestalten sich auch die individuellen Beziehung- und Bindungsfaktoren zu Kirche.
Eine weitere Folge des Abbaus von Selbstverständlichkeiten ist jedoch auch das wachsende Bedürfnis nach Bestätigung. Ein sicherlich wichtiger Grund für die Intensivierung digitaler Kommunikation ist genau der Wunsch nach bestätigender Resonanz.
Diese Überlegungen zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen entstammen meiner laienhaften Perspektive. Sie sind Ausdruck eines großen Bedürfnisses nach soziologischen Analysen und Reflektionen. Aus meiner Sicht hängt für unsere kirchlichen Betrachtungsweisen und Zukunftsüberlegungen von der Bereitschaft ab, die soziologischen Erkenntnisse zu rezipieren und auf ihre Relevanz für Kirche hin zu befragen.